Mit den Ohren denken

Die Gegner des Bombodroms in der Kyritz-Ruppiner Heide wollen in Ruhe arbeiten und behindern deshalb die Pläne der Bundeswehr. von frank brendle

Nach 83 Protestwanderungen in elf Jahren müssen die Menschen rund um die Kyritz-Ruppiner Heide inzwischen kräftige Beinmuskeln haben. Bundesweit ist das Gebiet 100 Kilometer nordwestlich von Berlin besser als Freie Heide bekannt. Was die Menschen dort umtreibt, ist der Protest gegen den Luft-Boden-Schießplatz der Bundeswehr.

Zu Beginn der fünfziger Jahre beschlagnahmte die Sowjetarmee das Gelände und benutzte es als Bombenabwurfplatz. Bis 25 000 Übungsflüge im Jahr strapazierten die Nerven der Anwohner. Ihre Hoffnung, nach dem Abzug der Sowjets endlich zur Ruhe zu kommen, machte die Bundeswehr zunichte, die den Übungsplatz im fliegenden Wechsel übernahm, um die eigenen Bomber zu trainieren. Im Januar 1994 dröhnten die ersten Tornados im Tiefflug über das Gelände.

Seither wird in der Heide protestgewandert. Zu Zeiten, in denen die Beteiligung an Friedensdemos zurückging, kamen zu den Heidemärschen regelmäßig tausende Menschen, ganze Dorfgemeinschaften waren und sind zu solchen Anlässen auf den Beinen. Die Teilnehmer dieser Veranstaltungen haben nichts vom Erscheinungsbild eines antimilitaristischen Haufens an sich, sie sind selbst für die Verhältnisse der Friedensbewegung extrem bürgerlich. Auf der Homepage der Freien Heide finden sich unter den Redeprotokollen der Demos, die eben nicht Demos, sondern Protestwanderungen heißen, überwiegend »geistige Besinnungen« diverser Pfarrer. Was diese mit Handwerksmeistern, Landwirten, Gemeindevorstehern und Hotelbesitzern eint, ist hauptsächlich die Sorge um die Arbeitsplätze. In der strukturschwachen Region streitet man nicht über Sinn und Zweck von Militärübungen an sich, sondern darüber, was sie für den Arbeitsmarkt bedeuten.

Der Lärm, den die Tiefflieger produzieren, schädige die ganze Region, fürchtet man in der Freien Heide. Die Leiterin der Musikakademie Rheinsberg, Ulrike Liedkte, sagte auf der jüngsten Protestwanderung am 8. Juni: »Wir denken mit den Ohren.« Nicht nur die Musikakademie müsse schließen, auch der Tourismus in der Region sei bedroht; mögliche Kerosinverunreinigungen und Abstürze müsse man ebenfalls einkalkulieren. Der ortsansässige Verein Pro Bundeswehr dagegen hofft auf die Stationierung einer Garnison, deren 800 Angehörige nicht nur Kaufkraft, sondern auch noch 165 Arbeitsplätze für Zivilangestellte und Infrastrukturförderungen des Bundes mitbrächten. Dabei beruft sich der Verein auf Angaben der Bundeswehr, die allerdings nicht verbindlich zugesagt sind. Die Gegner des Bombodroms verweisen auf ihre Gegenrechnung. Akribisch zählt Barbara Lange, Sprecherin der AG Freier Himmel aus dem nahen Mecklenburg, jeden einzelnen Arbeitsplatz auf, der in den vergangenen Jahren auf Campingplätzen, in Ferienparks und an Kanustationen geschaffen wurde. Sie kommt dabei auf erheblich mehr als 165. Und wer will schon Urlaub machen, wenn dauernd Tiefflieger übers Kanu donnern?

Mit ihrer Weigerung, sich grundsätzlich antimilitaristisch zu verhalten, ist die Freie Heide zur legitimen Vertreterin der Einwohner rund ums Bombodrom geworden. Ein Dutzend Gemeinden stehen hinter ihr; zu den prominentesten Unterstützern ihres Protestes gehörten Rudolf Scharping und Peter Struck. Das ist allerdings lange her. Scharping kündigte 1994 als Kanzlerkandidat an, im Falle seines Wahlsieges das Bombodrom zu schließen, und Struck forderte 1992 im Namen der SPD-Bundestagsfraktion die Entmilitarisierung des Platzes.

Davon wollten später beide nichts mehr wissen, die einstigen Bündnispartner stritten alsbald vor Gericht. Urteile unterer Instanzen, die der Bundeswehr die Nutzung des Geländes untersagten, wurden vom Verteidigungsministerium angefochten. Im Dezember 2000 verhängte das Bundesverwaltungsgericht ein Moratorium. Die Bundeswehr dürfe den Platz zwar benutzen, müsse aber vorher eine ordentliche Anhörung durchführen. Das Anhörungsverfahren ist mittlerweile abgeschlossen. Eine »Farce« sei es gewesen, sagt Susanne Hoch von der Freien Heide. Was die Bundeswehr genau vorhabe, sei nach wie vor nicht geklärt. Nach Angaben der Bundeswehr soll es künftig 1 700 Schießübungen im Jahr geben, aber ohne den Einsatz scharfer Bomben. Wie viele Überflüge das ergibt, weiß keiner genau. Ein Mitarbeiter im Verteidigungsministerium geht von drei bis vier Überflügen pro Einsatz aus, es könnten aber auch mal zehn werden. Die zu erwartende Lärmbelastung ist in einem Gutachten – ausgerechnet vom Rüstungskonzern European Aeronautic Defence and Space Company (EADS) erstellt – nur mit einem »äquivalenten Dauerschallpegel« von 67 Dezibel beschrieben, über die Spitzenpegel gibt es keine Angaben.

Die endgültige Entscheidung will Struck bis Anfang Juli treffen, und kaum jemand zweifelt daran, dass er sich gegen die Freie Heide entscheiden wird. Woher der Sinneswandel kommt, ist den Tourismuspromotern der Freien Heide nicht klar. Militärpolitik ist nicht ihr Thema.

Tatsächlich haben sich nicht die Platzverhältnisse, wohl aber die Bedürfnisse der Bundeswehr geändert. Das Heidegelände bietet aufgrund seiner Fläche von 144 Quadratkilometern und seiner dünn besiedelten Umgebung hervorragende Übungsmöglichkeiten. Die Welt schrieb im Dezember 2000, es könne zum »größten Übungsplatz für Luft-Boden-Kampf in Europa« ausgebaut werden. Hier ist das »Training taktischer Einsatzverfahren« möglich. Während woanders nur zielgenau Bombenattrappen abgeworfen, also reine Schießübungen durchgeführt werden, kann in der Heide die realistischere Situation durchgespielt werden, dass auf dem Boden feindliches Militär die Bomber mit Radar ableuchtet, um sie abzuschießen. Auch der aus der Luft unterstützte Einsatz von Bodentruppen lässt sich dort prima trainieren. Die Bundesregierung nannte im Dezember 2000 »den Einsatz von Panzern, Artillerie, Hubschraubern und Flugabwehrraketen ohne scharfen Schuss«. Anders ausgedrückt: Weil die Bundeswehr zur weltweit agierenden Angriffsarmee mit hoher Schlagkraft werden soll, braucht sie das Übungsgelände bei Wittstock. Hinzu kommt, dass der Platz auch ausländischen Streitkräften angeboten werden soll. Angesichts der neuen Nato-Mitglieder in Osteuropa bietet sich die Chance einer »Brücke nach Osten«.

Es dürfte allerdings noch ein wenig dauern, bis es so weit ist. Gegen die Wiederaufnahme des Übungsbetriebes kündigt die Freie Heide weitere Klagen an; zum einen, weil die Anhörung nicht angemessen verlaufen sei, zum andern sind da auch noch ungeklärte Eigentumsverhältnisse. Das von der Sowjetarmee requirierte Gelände wurde 1993 von der Oberfinanzdirektion den früheren Eigentümern – größtenteils den benachbarten Gemeinden – übertragen. Gleichzeitig schenkte das Bundesvermögensamt das komplette Gebiet der Bundeswehr. Ein klassischer Fall von Behördenwirrwarr. Die Rückübertragung wurde im Januar 2001 wieder aufgehoben – was wiederum die Verwaltungsgerichte beschäftigt.

Das immerhin spricht doch sehr für die Lärmschutzinitiative der Freien Heide: Die hartnäckige Formulierung ihres ureigenen Interesses, einfach nur ihre Ruhe haben zu wollen, behindert die Bundeswehr bei der Aneignung noch besserer Kriegsfähigkeiten.