Watergate am Tejo

In Portugal entwickelt sich ein Skandal um den Missbrauch von Kindern in staatlichen Heimen zu einer politischen Krise. von christiane hellermann, lissabon

Die Aufdeckung eines Pädophilenrings erschüttert seit einem halben Jahr Portugal. Hunderte von Kindern sind in den vergangenen zwanzig Jahren in dem Land sexuell missbraucht und zur Prostitution gezwungen worden. Mehrere bekannte Persönlichkeiten wurden wegen Kindesmissbrauchs verhaftet. Jetzt hat der Skandal die politische Klasse erfasst.

»Ich weiß, dass Unschuldsbekenntnissen nicht geglaubt wird, aber ich kann nicht aufhören zu beteuern, dass ich niemals an pädophilen oder ähnlichen Taten beteiligt war.« Paulo Pedroso sitzt seit Ende Mai in Untersuchungshaft. Dem ehemaligen Sozialminister und jetzigen Sprecher der Sozialistischen Partei (PS), der größten Oppositionspartei, werden 15 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern vorgeworfen. Für die Aufhebung seiner Immunität waren abgehörte Telefonate als belastende Beweise ausschlaggebend. Aber nicht nur die Telefone Pedrosos, sondern auch des Generalsekretärs sowie des Parlamentsvorsitzenden der PS wurden abgehört. Seitdem herrscht große Aufregung wegen der Abhöraktion, die überwiegend für zweifelhaft und nicht rechtmäßig gehalten wird.

Pedroso gilt als Erneuerer der PS, der sich intensiv für eine bessere Zusammenarbeit der Linken einsetzt. Die gesamte PS ist von seiner Unschuld überzeugt und zeigt sich solidarisch mit ihm. Viele glauben an ein Komplott und fürchten, dass noch mehr Politiker der PS verdächtigt werden. Verschwörungstheorien, die schon seit einer Weile den Pädophilieskandal begleiten, werden nun ernster erörtert. Die Verleumdung von Politikern könnte darauf abzielen, die Sozialistische Partei sowie die gesamte oppositionelle Linke zu schwächen. Francisco Louçã vom Bloco de Esquerda (Linksblock) sprach deshalb von einem portugiesischen »Watergate«. Es wird auch spekuliert, ob die Verdächtigung öffentlicher Personen eine inszenierte Ablenkung von den tatsächlichen pädophilen Verbrechern sein könnte.

Die Festnahme weiterer Politiker wäre fatal und könnte zu einer ernsten politischen Krise führen – zusätzlich zu der wirtschaftlichen Krise, unter der Portugal stark leidet.

Der Skandal begann im November 2002, als die Wochenzeitung Expresso und der private Fernsehsender SIC von sexuellen Kindesmissbräuchen in der Casa Pia berichteten, einer öffentlichen Einrichtung mit 200jähriger Tradition, die sich Kindern aus problematischen sozialen Verhältnissen, Waisen sowie hör- und sprechbehinderter Kinder annimmt. Als größte Institution dieser Art hat die Casa Pia derzeit 4 600 Kinder in ihrer Obhut, an zehn Orten in ganz Portugal gibt es Wohnheime, Schulen und andere soziale Einrichtungen. In vielen Fällen fungiert die Casa Pia auch als juristischer Vormund der Kinder. Ihrer Leitung und der Kriminalpolizei waren Übergriffe und Vergewaltigungen in einem gewissen Ausmaß seit Anfang der achtziger Jahre bekannt. Ermittlungen verliefen aber wegen mangelnder Beweise im Sande. Die Aussagen der betroffenen Kinder wurden nicht ernst genommen oder als nicht ausreichend eingestuft. Drei Prozesse wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern der Casa Pia zwischen 1975 und 1987 wurden eingestellt.

»Wir dachten, dass es schlimm sei«, sagt Catalina Pestana, die neue Leiterin, die die aktuellen Untersuchungen erst ermöglichte, »aber dass es so schlimm ist, ahnten wir nicht.« Auch Felícia Cabrita, die Journalistin, die den Skandal ins Rollen brachte, rechnete nicht mit der Entdeckung eines gigantischen pädophilen Netzwerkes. In einem Interview mit der Tageszeitung Diario de Notícias berichtet sie, dass sie »nur« einen Mitarbeiter der Casa Pia aufspüren wollte, der seit mehr als 20 Jahren Kinder vergewaltigen soll. Er sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft.

Es wird vermutet, dass der nun aufgedeckte portugiesische Pädophilenring in Verbindung mit dem internationalen Kinderpornomarkt steht. Kinderschutzorganisationen bezeichnen Portugal als ein Zentrum für Pädophile, als eine Art »europäisches Mini-Thailand«.

Seit November wurde eine Reihe mutmaßlicher Täter festgenommen, so auch ein Rechtsanwalt, der in 48 Fällen wegen Kindesmissbrauchs angeklagt wird. Auch der Fall eines ehemaligen Botschafters, der schon 1981 wegen jahrelangen sexuellen Missbrauchs von mehr als 20 Kindern angeklagt worden war, wurde neu aufgerollt. Als Beweismaterial lagen damals Fotos der Taten vor, die jedoch auf unerklärliche Weise aus den Polizeiakten verschwanden.

Anfang Februar wurde dann Carlos Cruz festgenommen, ein seit langem sehr bekannter und respektierter Fernsehmoderator. Die Öffentlichkeit reagiert entsetzt und ungläubig, die Medien kennen kaum ein anderes Thema. Portugal ist schockiert: Wenn Carlos Cruz Kinder missbraucht haben könnte – wer dann noch?

Der Fall Cruz wurde zu einem Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung, die schrecklichen Ausmaße des Skandals werden begreiflich. Seitdem überwiegt das Gefühl resignierter Verwunderung. Jeder kann in den Skandal involviert sein. Wer mag der Nächste sein? Kurz darauf wurde Paulo Pedroso verhaftet.

Die Berichterstattung der Medien über den Fall Casa Pia ist ein fragwürdiges Spektakel. Jede neue Enthüllung wird zur Sensation und tagelang in allen Details dargestellt. In den ersten Wochen des Skandals wurden Kinderpornos, leicht gekürzt und kaschiert, und pädophile Filme mit »Casapias« zur besten Sendezeit als »Beweise« im Fernsehen gezeigt.

Viele Berichte sind nicht frei von homophoben Äußerungen. Insbesondere die privaten Fernsehsender vermischen gerne Homosexualität und sexuellen Missbrauch. Mehrere Gruppen des movimento gay warnen deshalb vor einer Gleichsetzung oder Verwechslung. Und wie so oft bei Kindesmissbrauch sind auch in Portugal fast alle verdächtigten Täter »ganz normale«, sprich heterosexuelle Männer, sie sind verheiratet und haben Kinder.

Der Skandal dehnt sich immer weiter aus und es ist anzunehmen, dass in den nächsten Wochen und Monaten weitere Enthüllungen folgen werden. Mehrere Zeugen deuteten bereits an, dass zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in die kriminellen Aktivitäten des Pädophilenrings involviert seien.

Das Thema ist lange unterschätzt worden. Der sexuelle Missbrauch von Kindern tauchte erst 1995 im portugiesischen Strafgesetzbuch auf. Bis dahin gab es nur die Kategorien des »Sittlichkeitsverbrechens« und der Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe auf Kinder hingegen exisitierten nach der Auffassung portugiesischer Juristen schlichtweg nicht.