Alles, was Recht ist

Urteil im Distomo-Prozess von lars reissmann

Die Linie war von der rot-grünen Bundesregierung vorgegeben. Die Ansprüche von Hinterbliebenen des Massakers vom 10. Juni 1944 im griechischen Ort Distomo wies der dritte Zivilsenat des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe zurück. »Für die Beurteilung der Klageansprüche«, heißt es in der Begründung, »ist die Rechtslage zur Zeit der Tat (…) also des Jahres 1944 (…) maßgebend.« Diese Haltung erinnert an den Ausspruch Hans Filbingers, des vor 25 Jahren zum Rücktritt gezwungenen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und ehemaligen NS-Kriegsmarinerichters: »Was damals Recht war, kann doch heute nicht unrecht sein.«

Die Richter in Karlsruhe wiesen die Klage der Geschwister Sfountouris, deren Familie 30 der 218 in Distomo ermordeten Menschen angehörten, zurück. Ein Präzedenzfall schien möglich: die Anerkennung eines NS-Massakers an der Zivilbevölkerung, die in Berlin als Bedrohung empfunden wird. Allein für griechische Opfer wären bei 60 000 in Griechenland anhängigen ähnlichen Klagen etwa fünf Milliarden Euro Entschädigung zu zahlen gewesen. Bei Berücksichtigung der Betroffenen vor allem in Osteuropa erreichte die Summe grob geschätzt mindestens das zehn- bis 20fache.

In das deutsche Rechtsbewusstsein und in das Urteil des Bundesgerichtshofes fand der besondere Schutz der Zivilbevölkerung, der bereits in der Haager Landkriegsordnung von 1907 verbürgt ist, keinen Eingang. Vielmehr versucht man noch heute, die Massaker der so genannten »Sühnemaßnahmen« gerade mit dem Haager Abkommen zu rechtfertigen, indem immer noch von Vorgängen im Rahmen des »Kriegsgeschehens« gesprochen wird. Die Rechtsgrundlage und die Rechtspraxis der Nürnberger Prozesse, in der solche Verbrechen an der Menschheit verurteilt wurden, werden nicht beachtet. Man weigert sich, NS-Verbrechen juristisch zu fassen und als Straftaten zu verurteilen.

Dabei gibt es sehr wohl Rechtsgrundlagen für die Gewährung individueller Entschädigung bei NS-Massakern. Joachim Kummer, der Anwalt der Opfer, wies diese Tendenz im internationalen Recht nach und machte auf die zivilrechtlichen Ansprüche gegen die Bundesrepublik als Funktionsnachfolger des Deutschen Reiches im Sinne der Amtshaftung aufmerksam. Doch der Bundesgerichtshof folgt zur Abwehr dieser Ansprüche eindeutig der nationalsozialistischen Rechtsauslegung: »Nach damaligem Verständnis war eine Einstandspflicht des Staates (…) nicht gegeben.«

Der vorsitzende Richter Eberhard Rinne meinte, die Sache ließe sich »mit den beschränkten Mitteln des Rechts« nicht lösen. Eine Überweisung an das Bundesverfassungsgericht wäre ein sehr bescheidener, aber möglicher Schritt gewesen. Die jetzige Entscheidung beweist den uneingeschränkten Willen, Klagen von Opfern des Nationalsozialismus niederzuschlagen. Die bundesdeutsche Gesellschaft und insbesondere ihre Rechtsorgane haben nicht nur den NS-Opfern die Anerkennung und Entschädigung versagt, sondern auch die strafrechtliche Verfolgung der Täter unterlassen und verhindert.

Die rot-grüne Regierung ist auch weiterhin nicht gewillt, mit der griechischen Seite zu verhandeln. Vorschläge zur Einrichtung eines Härtefonds sind zur Zeit noch aussichtslos. Mehr politischer Druck, möglichst internationaler, ist nötig, damit die NS-Opfer entschädigt werden.