Pragmatische Ayatollahs

Die Lage im Südirak ist relativ ruhig, doch der schiitische Klerus und die islamistischen Organisationen fordern einen schnellen Abzug der Besatzungstruppen.

Desert Scorpion«, »Peninsula Strike«, »Sidewinder« – die Strategen des Pentagon müssen sich immer neue Bezeichnungen für die zahlreichen Operationen einfallen lassen, mit denen die US-Armee versucht, den Irak unter Kontrolle zu bringen. Schon lange handelt es sich nicht mehr nur um die Suche nach versteckten Waffen oder um die Festnahme einzelner Verdächtiger, sondern um ausgedehnte Militäraktionen, bei denen ganze Panzerverbände, Artillerie und Flugzeuge eingesetzt werden.

Allein während der Operation »Peninsula Strike« Anfang Juni, an der etwa 4 000 US-Soldaten teilnahmen, wurden über hundert Menschen getötet, die der Beteiligung an Guerillaaktivitäten verdächtigt wurden. Mehrere hundert Menschen wurden aus diesem Grund im Verlauf des zurückliegenden Monats festgenommen. US-Präsident George W. Bush drohte in einer Rede am vergangenen Dienstag, alle, die die »Ordnung und Stabilität« des Irak bedrohten, würden »genauso sicher dem Untergang entgegen sehen wie das Regime, dem sie dienten«.

Seine markigen Worte können jedoch nicht über die schwierige Situation hinwegtäuschen, in der sich die Besatzungsmacht zurzeit befindet. Im Irak vergeht kaum ein Tag ohne neue Angriffe auf die US-Truppen und ihre Verbündeten. Seit Präsident Bush am 1. Mai die Kämpfe offiziell für beendet erklärt hat, hatten die USA im Irak insgesamt über 70 Tote und mehr als 100 Verwundete zu beklagen.

Die US-Armee betrachtet die zentralirakische Region zwischen Bagdad und Samarra sowie die Hauptstadt selbst als Hauptaktionsgebiet der Untergrundkämpfer. Vor allem im 50 Kilometer westlich von Bagdad gelegenen Faluja, wo amerikanische Soldaten Ende April 18 Demonstranten erschossen, gibt es regelmäßige Überfälle auf Soldaten und Einrichtungen der US-Armee.

Glaubt man den Militärsprechern, so handelt es sich bei den Angreifern vor allem um Anhänger des alten Regimes sowie um al-Qaida Zellen und Infiltratoren aus dem Iran und Syrien. Einen landesweit organisierten Widerstand, so wird immer wieder betont, gebe es nicht. US-Politiker haben den in den letzten Tagen häufig gezogenen Vergleich mit Vietnam energisch zurückgewiesen und den Begriff »Guerillakrieg« strikt vermieden. Aber genau darauf könnte es auch im Irak hinauslaufen.

Zwar ist die Lage im überwiegend schiitischen Süden vergleichsweise ruhig, der Tod von sechs Briten in Majar al-Kabir zeigt jedoch, dass das Verhältnis zur Bevölkerung auch hier gespannt ist. Britische Soldaten hatten dort Häuser nach versteckten Waffen durchsucht und dabei unter anderem durch den Einsatz von Hunden, die als unrein angesehen werden, die religiösen Gefühle der Bewohner verletzt. Bei Protesten gegen dieses Vorgehen erschossen die Fallschirmjäger fünf Demonstranten und zogen sich dann zurück. Nicht, wie zunächst berichtet, Fidaiyin-Milizen, sondern aufgebrachte Einwohner töteten daraufhin sechs britische Militärpolizisten, die offenbar versehentlich in der Polizeistation zurückgelassen worden waren.

»Vom Pöbel massakriert« titelte die britische Boulevardzeitung The Sun, als sich die ursprüngliche Version nicht mehr aufrechterhalten ließ. Im offiziellen Bericht, den Verteidigungsminister Geoffrey Hoon dem Parlament vorlegte, heißt es, die Soldaten seien Opfer eines Missverständnisses gewesen.

Seit diesem Zwischenfall tragen die Briten im Südirak wie ihre amerikanischen Kollegen wieder Schutzwesten und Helme. Die Briten hoffen jedoch, dass es im Süden nicht zu einem umfassenden Aufstand kommen wird. Ihre Strategen erinnern sich sicher an die Revolte im Jahr 1920. Damals führte eine Allianz der Stammesscheichs und städtischer Notablen zusammen mit den Ulama, den schiitischen Geistlichen, die Stämme des Süd- und Zentralirak gegen die Briten, um die Unabhängigkeit zu erreichen. Die Revolte konnte nur mit großer Anstrengung niedergeschlagen werden, auch chemische Waffen wurden eingesetzt. Der damalige Oberstleutnant Sir Arthur Harris bemerkte zur Rolle der Royal Airforce: »Die Araber und Kurden wissen jetzt, was ein richtiges Bombardement an Verlusten und Zerstörung bedeutet. In 45 Minuten kann praktisch ein ganzes Dorf ausgelöscht werden.«

Grund zur Befürchtung, die schiitischen Ulama könnten wie damals ihre Gefolgsleute zum bewaffneten Widerstand gegen die Besatzer aufrufen, besteht zurzeit nicht. Die größte schiitisch islamistische Organisation, der Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak (Sciri), zeigt sich dieser Tage zumindest nach außen pragmatisch. Die Badr-Brigaden, sein bewaffneter Arm, übten sich in vorauseilendem Gehorsam und begannen bereits zwei Wochen vor dem Ablauf eines Ultimatums, ihre schweren Waffen zu übergeben.

Muhammad Baqir al-Hakim, der Anfang Mai nach 23 jährigem Exil in seine Heimat zurückgekehrte Führer des Sciri, erklärte jedoch, dass die Truppe ihre leichten Waffen behalten werde. »Das irakische Volk muss in der Lage sein, sich gegen diejenigen Kräfte zu verteidigen, die damit fortfahren, es zu töten«, sagte er in einem Interview. Statt auf Eskalation setzt Hakim auf eine friedliche Lösung, um einen baldigen Abzug der Amerikaner zu erreichen: »Wir müssen alle politischen Schritte unternehmen, die das Ende der Besatzung beschleunigen.« Auch die kleine und radikalere Partei Dawa ruft nicht zum bewaffneten Kampf auf, sondern konzentriert sich auf den Wiederaufbau ihrer Organisation.

Ähnlich wie Hakim äußerte sich auch Ayatollah Ali al-Sistani, einer der höchsten schiitischen Kleriker, dessen Entscheidungen von vielen schiitischen Irakern befolgt werden. Sistani ist zwar kein Verfechter einer politischen Führungsrolle der schiitischen Geistlichkeit, hat sich aber in jüngster Zeit auch wiederholt zu politischen Fragen geäußert. In einer Ende Juni erlassenen Fatwa verurteilte er die Pläne der USA, eine verfassunggebende Versammlung per Dekret zu benennen. Allein das irakische Volk habe das Recht, durch Wahlen ein solches Gremium zu bestimmen. Am vergangenen Montag traten al-Hakim und al-Sistani gemeinsam vor die Presse und wiederholten noch einmal ihre Forderung nach Selbstbestimmung der Iraker und einem schnellen Abzug der amerikanischen und britischen Truppen.

Die Briten planen unterdessen, ihre Einheiten durch ein Kontingent von 5 000 Soldaten aus Dänemark, Norwegen und Italien zu verstärken. Auch Paul Bremer, der US-Verwalter im Irak, hat inzwischen weitere Truppen angefordert. Ein allgemeiner Aufstand im Süden oder ein umfassender Guerillakrieg stehen nicht unmittelbar bevor. Wenn die USA aber die schiitische Geistlichkeit und die islamistischen Organisationen vor den Kopf stoßen, könnte ihnen ein neuer Gegner entgegentreten, der gefährlicher ist als versprengte Ba’ath-Milizen, islamische und panarabistische Internationalisten, Plünderer oder empörte Dorfbewohner. Die Aschura-Umzüge im April und Mai haben gezeigt, dass religiöse Symbolik und religiöse Zeremonien auch für politische Zwecke umgedeutet werden und eine hohe Mobilisierungswirkung haben können.