Bohemians ins Grübchen!

Noch ist der Fußball in Prag eine ruhige und angenehme Sache, aber Gewalt gibt es mittlerweile auch. Und der Ausverkauf findet stets dann statt, wenn sich gerade der Erfolg einstellt. von florian ruhland

Das Ende der vergangenen Saison im tschechischen Fußball. Der AC Sparta Prag benötigte Mitte Mai, drei Spieltage vor Saisonende, nur einen Sieg beim abstiegsbedrohten Lokalrivalen Bohemians. Als in der 72. Minute Sparta zur 2:1-Führung traf, griffen Bohemians-Fans den Linienrichter an. »Von den Bohemians-Anhängern hat er zwei Faustschläge erhalten. Einen ins Genick und einen ins Gesicht«, berichtete der Schiedsrichter über die Attacken auf seinen Assistenten. »Daher habe ich das Spiel vorzeitig beendet.« Für Sparta bedeutete der Abbruch die Meisterschaft, aber Klubpräsident Vlastimil Kostál sagte über die Ausschreitungen: »Ich bin sehr, sehr traurig darüber. Das hat unserer Freude über den Titelgewinn gehörig Abbruch getan.«

So etwas ist selten im tschechischen Fußball der Nachwendezeit. Ausschreitungen sind im Prager Fußball nicht die Regel. Ruhe prägt vielmehr meist die Stimmung in den Stadien. Gewiss, es gibt lautstarke Anfeuerungsrufe der eigenen und böse Schimpftiraden auf die gegnerische Mannschaft, aber alles in allem sind Prager Stadien Orte, in denen man ein gepflegtes Gespräch führen kann, ohne sich ins Ohr brüllen zu müssen.

Vier Erstligavereine gibt es in Prag: Sparta, Slavia, Bohemians und Zizkov. Gemeinsam haben sie so gut wie nichts. Außer, dass sie in Prag beheimatet sind und in der gleichen Liga spielen, der »Gambrinus-Liga«, wie sie nach ihrem Sponsor heißt, einer Brauerei aus Pilsen.

Auf dem Hügel Strahov, hinter dem früheren Stadion für die Spartakiaden, versteckt sich das Stadion Evzena Rosického. Ursprünglich wurde es für die Europameisterschaften der Leichtathleten 1978 gebaut, doch heute dient es Slavia als ungeliebtes Ausweichquartier für die Heimspiele. Slavias Stadion wird nämlich gerade umgebaut und modernisiert und liegt in den Tiefausläufern von Vrsovice, fast am anderen Ende der Stadt. Welch eine Zumutung für die Anhänger des Traditionsvereins Slavia (die meisten Prager Vereine sind natürlich Traditionsvereine!), nun zu jedem Heimspiel eine Fahrt mit Straßenbahn und Bus antreten zu müssen. So etwas gab es vorher nur bei Auswärtsspielen innerhalb Prags!

Neben Slavias momentaner Baustelle findet sich das Stadion der Bohemians. Liebevoll wird es aufgrund der Topographie »dolícek« gennant, was sich mit »Grübchen« übersetzen lässt. Das heutige Stadion, also das neue Grübchen, entstand 1932 für 18 000 Zuschauer als Nachfolger des alten Grübchens, in das 6 000 Fans passten.

Wie das Grübchen der Bohemians wurden auch die Stadien von Slavia und Sparta bei der Bombardierung Prags im Februar 1945 schwer beschädigt. Beide Stadien lagen einander auf dem Letná-Plateau in unmittelbarer Nähe gegenüber, doch nur Sparta behielt nach dem Krieg seinen Standort, Slavia zog um.

Slavia und Sparta sind vermutlich die in Deutschland bekanntesten Prager Klubs, und meist ist es so: Sparta wird Meister und spielt in der Champions League, Slavia wird Vizemeister und erreicht den Wettbewerb um den Uefa-Pokal, so auch in der abgelaufenen Saison, den Rest machen die anderen unter sich aus.

Sparta ist, auf deutsche Verhältnisse übertragen, der FC Bayern München Tschechiens, und so tritt der Verein auch auf. Die meisten Meisterschaften (24 in der Tschechoslowakei, acht in Tschechien), das modernste Stadion, die schicksten Trikots, die höchsten Werbeeinnahmen, die berühmtesten Spieler, der beste Fußball, die arroganteste und gelangweilteste Spielweise, die absurdesten Niederlagen und schließlich eine Filiale von McDonald’s im Stadion.

Wenn Tschechen von Sparta sprechen, klingt das meist resigniert und zugleich respektvoll. Resigniert – denn Sparta hat den übrigen Klubs mit ihrer Finanzkraft reihum einen guten Spieler nach dem anderen abgeluchst. Respektvoll – da angeblich von Sparta ja das Kapital weiter in den ganzen tschechischen Fußball fließt, denn schließlich kauft das Ausland ja bei Sparta ein.

Je erfolgreicher der tschechische Fußball, besonders der von Sparta, desto größer ist der folgende Exodus der Spieler ins Ausland. Spartas Präsident Kostál sagte freimütig, nachdem ihm Austria Wien Martin Hasek und West Ham United Vladimir Labant weggekauft hatte: »Es ist nicht sicher, dass wir mit Hasek und Labant erfolgreich gewesen wären, aber das Geld war eine Sicherheit. Fußball ist ein Geschäft.«

Zuletzt verließ Sparta der elegante Spielgestalter Jirí Jarosík – nicht in Richtung Westen sondern für 4,3 Millionen Euro zu ZSKA Moskau, in die erste russische Liga. Hinzugefügt sei aber, dass im letzten Sommer Karel Poborsky einen anderen Weg gegangen und zurückgekehrt ist. Er hat Lazio Rom verlassen und kickt in der laufenden Saison wieder für Sparta.

Die wirklich traurige Pointe ist, dass sich das reiche Sparta selbst in den Händen einer bayerischen Verlagsgruppe befindet, des konservativen Verlagshauses Passauer Neue Presse (PNP), dessen tschechische Tochterfirma 47 regionale Tageszeitungen herausgibt.

International ist neben Sparta und Slavia noch der FC Bohemians Prag recht bekannt. Die Vereinsgeschichte beginnt im Jahr 1905, als sich ein Club mit Namen AFK Vrsovice, benannt nach dem südöstlich des Stadtzentrums liegenden Stadtteil Prags, beim Tschechischen Fußballverband anmeldet. Wahrscheinlich gibt es aber kaum einen anderen Fußballverein auf der Welt, dessen Image und Bekanntheitsgrad derart von einer sehr kurzen Phase der Vereinsgeschichte geprägt wurden. 1927 wurde die Mannschaft auf einen Ausflug nach Australien geschickt, der nicht nur zum Fußballspielen genutzt werden, sondern auch die moderne Tschechoslowakische Republik repräsentieren sollte. Was glänzend gelang: Nach der Einschiffung in Neapel fuhr die Mannschaft mit dem Schiff in 23 Tagen über Suezkanal und Ceylon nach Perth. In Colombo unterlag man zwischendurch einem englischen Team mit 1:2. Dafür war die sportliche Bilanz der in Australien ausgetragenen Begegnungen mit 15 Siegen, zwei Niederlagen und drei Unentschieden äußerst positiv. Die australische Presse berichtete beeindruckt von »central europe’s world famous soccer exponents«.

Wichtiger noch als die sportliche Seite der Reise ist aber der Ruf der gewissen Extravaganz, der dem Club seither anhaftet. Folglich wurde aus dem AFK Vrsovice der AFK Bohemians. Außerdem hat der Klub seit dieser Australienreise des Jahres 1927 das Känguru als Maskottchen und trägt den Spitznamen »Klokani« – Kängurus.

Sportlich finden sich die Bohemians meistens im Mittelfeld, hin und wieder mal ganz oben und nur ganz selten sehr weit unten – wie leider in der zurückliegenden Saison, die auf dem vorletzten Tabellenplatz und mit dem Abstieg endete.

Ein ganz anderer Klub kommt aus dem Prager Stadtteil Zizkov. Zu den bemerkenswerten Traditionen dieses Vereins gehört es, dass seine Heimspiele am Sonntagvormittag stattfinden. Daran wird sich wohl auch durch die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs nichts ändern. Obwohl: Es gab kürzlich eine kleine Rebellion von Fans, die ihrem Präsidenten nahe legten, die Anstoßzeit auf die Zeit nach dem Ausschlafen zu legen. Das sind nämlich die Fans von Zizkov: Man fragt sich Sonntag vormittags, ob all die Männer, die sich ins Stadion geschleppt haben, noch oder schon wieder betrunken sind. Traurige Gestalten, denen bloß ihr sonntägliches Palaver direkt am Zaun hinter dem Tor geblieben ist. Fußballerisch hat sich die Mannschaft seit ihrer Etablierung in der ersten Liga aber zu einem überdurchschnittlichen Team entwickelt.

Die Konkurrenz der vier Prager Vereine sorgt jedoch nicht unbedingt für eine Attraktivitätssteigerung. Der niedrige Geräuschpegel in den Stadien ist auch einfach eine Folge der wenigen Besucher. Die relativ großen Stadien von Sparta und Slavia waren im Ligabetrieb seit Jahren nicht mehr ausverkauft. Etwas lauter geht es in den kleineren Stadien der Bohemians und von Zizkov zu. Aber der Schnitt liegt in der ganzen Liga derzeit nur knapp über 4 000. Zu Auswärtsspielen der Prager Teams reist kaum mehr als ein Dutzend Fans mit.

Die Gründe für dieses Desinteresse, die von tschechischen Fußballoffiziellen genannt werden, sind nicht alle nachvollziehbar: Zu teuer seien die Eintrittskarten, doch ein guter Platz bei Sparta ist für 50 bis 100 Kronen, bei den Bohemians für 90 Kronen zu haben, und bei Slavia wurden Karten im Pokalwettbewerb sogar schon verschenkt. Gegen finanzielle Gründe spricht auch, dass die Spiele von Sparta in der Champions League trotz astronomischer Preise beinah vor Verkaufsbeginn ausverkauft waren. Eher fehlt schon die Qualität. Das liegt vor allem am beständigen Spielerfluss ins Ausland. Tschechische Spieler von der Qualität Rosickys, Kollers, Bergers, Smicers, Nedveds, Bejbls, Jezeks und Galáseks spielen seit Jahren ubiquitär in den europäischen Ligen, etliche in der deutschen Bundesliga.

Doch so viel Tristesse, wie diese Fakten vielleicht nahe legen, herrscht im tschechischen Fußball letztlich doch nicht. Die Saison 2001/02 zeigte, dass die Prager Klubs in der tschechischen Liga doch nicht immer so dominant auftreten, dass alles ganz einseitig wird. Plötzlich spielte nämlich das Team aus Liberec um den Stürmer Jirí Stajner an der Tabellenspitze – die Prager Mannschaft aus Zizkov im Windschatten, die man in dieser Tabellenregion auch noch nicht gesehen hatte. Zur letzten Partie der Saison trat Liberec auswärts bei den Bohemians in Prag an. Gleichzeitig hatten Zizkov und Sparta ebenfalls noch Chancen auf den Titel. Im Grübchen, dem Stadion der Bohemians, herrschte eine außergewöhnlich beängstigende Aggressivität und Gewaltbereitschaft. Liberec konnte sich den Titel in diesem letzten Spiel trotz eines Sieges der Bohemians sichern, weil Zizkov gleichzeitig bei Slavia verlor. Nach dem Spiel setzte auf dem Rasen erst einmal eine Massenprügelei ein, die die Polizei nur mühsam beenden konnte.

Beinah so wie am Ende dieser Saison, als die Angriffe auf den Linienrichter auch im Grübchen die Meisterfeier von Sparta verdarben.