Haste was, sparste was

Die deutsche Regierung erlässt den Reichen Steuern und spart bei den Armen. Einen wirtschaftlichen Aufschwung wird das nicht bewirken. von ingo schmidt

Steuern runter macht Deutschland munter«, titelte die Bild-Zeitung vor einigen Wochen. Etwa gleichzeitig wuchs der Druck auf die Bundesregierung und die Opposition, ihre bis dahin favorisierte Politik der Haushaltskonsolidierung aufzugeben. Nachdem Steuersenkungen noch für dieses Jahr angekündigt wurden, erkannte Bild dem Bundeskanzler einen Orden für sein Wohlverhalten zu.

Langfristiger angelegt war der Aufbau einer gegen die Gewerkschaften gerichteten Einheitsfront aus Unternehmen, Politik und Medien. Im November vorigen Jahres veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Aufruf des konservativen Publizisten Arnulf Baring, in dem dieser die »Bürger auf die Barrikaden« rief gegen das »Tarifkartell« und den »Gewerkschaftsstaat«. Die seither immer wieder angemahnte Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte gipfelte jüngst in der Forderung nach einer völligen Abschaffung des Streikrechts. »Streik ist Krieg« titelte die Zeit und forderte eine humanitäre Intervention zur Ausschaltung fundamentalistischer Gewerkschafter. Gleichzeitig verweigerten die Unternehmerverbände der ostdeutschen Metallindustrie im Konflikt mit der IG Metall jeglichen Kompromiss.

Angriff auf die Gewerkschaften

So lange Tarifverträge als Waffenstillstandsabkommen zwischen den kämpfenden Parteien anerkannt waren, wurde der Interessensgegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital von den bürgerlichen Medien stets bestritten. Die öffentliche Anerkennung dieses Gegensatzes erfolgte nun zur selben Zeit wie der Angriff auf die Gewerkschaften.

Zwar sind die angekündigten Steuersenkungen für die Einkommensverhältnisse privater Haushalte sowie die wirtschaftliche Entwicklung entscheidender als der IG Metall-Streik in Ostdeutschland. Doch die ohne Abschluss eines neuen Tarifvertrages erfolgte Beendigung des Arbeitskampfes zeigt eine weit reichende Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Unternehmen und Gewerkschaften, zwischen vermögenden und eigentumslosen Schichten an. Zu Recht wurde das Streikende von der FAZ zugleich als Ende des Flächentarifvertrages in Deutschland bezeichnet.

Darüber hinaus radikalisierte sich die öffentliche Meinung. Auf die Proteste gegen die Sparpolitik antworten inzwischen nicht mehr nur die Unternehmerverbände, sondern auch große Teile der Bevölkerung mit der Forderung nach dem Abbau gewerkschaftlicher und demokratischer Rechte. Und der Druck, bei Sozialleistungen und öffentlichen Einrichtungen drastisch zu kürzen, wird noch deutlich zunehmen, sobald sich die steuerliche Entlastung der privaten Haushalte in Form von Einnahmeausfällen in den öffentlichen Haushalten bemerkbar macht.

Für die Radikalisierung gibt es Gründe. Jahrelang wurden die Globalisierung und die New Economy vom politisch-medialen Komplex als Markenzeichen eines anhaltenden Wirtschaftswachstums angesehen, das sich von sozialstaatlichen und gewerkschaftlichen Störungen erfolgreich emanzipiert habe. Mit dem Ende des Booms und der daran geknüpften Hoffnungen erinnerte man sich daran, dass der Sozialstaat und die Gewerkschaften nach der Weltmarktintegration und der Einführung neuer Technologien zwar geschwächt, aber immer noch vorhanden waren. Daher konnten sie auch für die seit dem Frühjahr 2001 anhaltende Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht werden.

Da sich die Krise für die Vermögenden in erster Linie dadurch bemerkbar macht, dass ihre Profit- und Zinsansprüche nicht mehr befriedigt werden, sind die gegenwärtigen Angriffe auf den Sozialstaat und die Gewerkschaften durchaus konsequent. Zu Beginn des Abschwungs wurde allenthalben davon ausgegangen, dass die USA wie in den vorangegangenen Zyklen als »Konjunkturlokomotive« fungieren und auch die deutsche Wirtschaft aus dem Tal ziehen würden. Mittlerweile ist jedoch deutlich geworden, dass die US-Ökonomie trotz gigantischer Importdefizite nicht mehr in der Lage ist, fast der gesamten Welt ihre Produktionsüberschüsse abzunehmen. Ein exportgeleiteter Aufschwung ist daher in Deutschland nicht in Sicht.

Löhne und Sozialleistungen stellen dagegen immer noch einen beträchtlichen Anteil am Einkommen der Bevölkerung dar. Nur eine weitere Umverteilung von unten nach oben wird die Profit- und Zinsansprüche der Vermögenden auch in den Zeiten der Stagnation befriedigen. Und genau hierauf zielen die jüngsten Steuerbeschlüsse, die Angriffe auf die Gewerkschaften sowie sämtliche Pläne zur Umgestaltung der Sozialversicherung.

Sparen für die Gerechtigkeit

Kriege bedürfen der Rechtfertigung. Das gilt für militärische Überfälle auf andere Länder ebenso wie für den jüngst erklärten Krieg gegen den Sozialstaat und die Gewerkschaften. Die Rechtfertigung ist gelungen, wenn sie die Kampfmoral der eigenen Truppen stärkt und zugleich Verwirrung in die Reihen des Gegners trägt.

Die Rechtfertigung des Umverteilungsgefechtes lautet in etwa so: Die abhängig Beschäftigten sowie die Empfänger von Sozialleistungen werden beschuldigt, Einkommen zu beziehen, die sie nicht vollständig oder überhaupt nicht selber erwirtschaftet hätten. Dass sie sich angeblich die Arbeitsleistung anderer aneignen, verletzt das bürgerliche Gerechtigkeitsempfinden. Als Urheber dieses unmoralischen Verhaltens werden die Gewerkschaften und der Sozialstaat ausgemacht, weil sie angeblich die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindern und die am Markt angebotene Arbeitsmenge beschränken. Mit Hilfe dieses Angebotmonopols würden den unter hohem Wettbewerbsdruck stehenden Unternehmen Löhne aufgezwungen, die den Wert der erbrachten Arbeitsleistung übersteigen. Darüber hinaus würden Sozialleistungen gezahlt, für die gar nicht gearbeitet werde.

So wird elegant davon abgelenkt, dass sich UnternehmerInnen nach wie vor den von ihren ArbeiterInnen und Angestellten geschaffenen Mehrwert aneignen, weil sie die Produktionsmittel und die Einkommen kontrollieren.

In den neunziger Jahren, dem Zeitalter der Globalisierung, stellte sich die vermögende Klasse ähnlich öffentlichkeitswirksam als Sachwalterin internationaler Solidarität dar, welche die legitimen Interessen der ausgebeuteten Massen des Trikonts gegenüber einer nationalistisch bornierten Arbeiteraristokratie in den Ländern des Nordens wahrnehme. In diesem Sinne wurden Kapitaltransfers in den Süden einerseits als Flucht vor den Lohnforderungen der ArbeiterInnen des Nordens interpretiert und andererseits als Möglichkeit für die ArbeiterInnen des Südens, für ein gerechtes Tagwerk einen gerechten Lohn zu erwerben. Die betonte Anteilnahme am Schicksal der Menschen des Trikont ließ das Ziel, Profite für den Norden zu erwirtschaften, fast vergessen.

Unter den Krisenbedingungen nach der Jahrtausendwende werden Lohnverzicht und Sozialabbau nun nicht mehr mit der Globalisierung gerechtfertigt, sondern mit dem Argument der Generationengerechtigkeit. Wir leben angeblich über unsere Verhältnisse und hinterlassen den künftigen Generationen nichts als Schulden.

Damit die Schuldenlast des Staates und der Sozialversicherungen nicht noch größer werde, sollen Renten und Dienstleistungen des Gesundheitssystems mehr und mehr aus individuellen Ersparnissen finanziert werden. Durch diese Form der Privatvorsorge würden die überzogenen Ansprüche an die Gemeinschaft der Steuerzahler reduziert. Deshalb ginge die Verschuldung zurück und die nachfolgende Generation habe nicht unter den Ausgabenexzessen ihrer Eltern zu leiden.

Doch die Sorge um »unsere Kinder« ist nicht weniger verlogen als die vormals behauptete Solidarität mit den Menschen im Trikont. Denn erstens kann keine Rede davon sein, dass wir »über unsere Verhältnisse leben«, weil keine Generation mehr verbrauchen kann, als sie produziert. Allenfalls könnte sie es unterlassen, verschlissene Produktionsmittel zu ersetzen. Das ist aber derzeit nicht der Fall. Im Gegenteil wurden in der Vergangenheit Kapazitäten aufgebaut, die wegen fehlender Nachfrage gegenwärtig nicht ausgelastet werden können. So gesehen lebt die Gesellschaft derzeit eher unter als über ihren Verhältnissen.

Zweitens führen Einsparungen, mögen sie auch mit dem Ziel der Haushaltskonsolidierung vorgenommen werden, zu einem noch größeren Nachfragemangel. Gleichzeitig mit dem wirtschaftlichen Wachstum verringern sich auch die Steuereinnahmen und die Beiträge zur Sozialversicherung, so dass die angestrebte Konsolidierung wegen rückläufiger Einnahmen nicht erreicht werden kann.

Drittens dürfen Staatsschulden nicht vor allem als Belastung angesehen werden; schließlich stellt die Schuldenlast der einen die Einkommensquelle der anderen dar. Doch immer neue »Sparpakete« führen zu Mängeln in der öffentlichen Infrastruktur, im Bildungssektor und im Bereich der Umweltsanierung.

Seit der Schuldenabbau und die Sparpolitik in den frühen achtziger Jahren zur wirtschaftspolitischen Maxime wurden, ist das tatsächliche Wirtschaftswachstum dauerhaft hinter dem Wachstumspotenzial zurückgeblieben, das durch das Arbeitsangebot und den technischen Fortschritt bestimmt wird. Die im gleichen Zeitraum erfolgte Zunahme der öffentlichen Schuldenlast ermöglichte den vermögenden Klassen, sich einen größer werdenden Anteil des Staatshaushaltes über dessen Zins- und Tilgungszahlungen anzueignen.

Angesichts der stockenden Mehrwertproduktion stellten steigende Zinseinkommen, die zunehmend aus Lohn- und Massenverbrauchssteuern finanziert werden, einen willkommenen Ausgleich dar. So gesehen gäbe es tatsächlich gute Gründe für einen Abbau der öffentlichen Schuldenlast; bloß nicht durch Ausgabenkürzungen, sondern durch höhere Steuern auf Vermögen und hohe Einkommen.

Ein neuer Kurs?

Die Ankündigung der Bundesregierung, die Einkommenssteuer zu senken und die entstehenden Steuerausfälle zumindest teilweise durch eine höhere Kreditaufnahme zu finanzieren, könnte als Abkehr vom Dogma der Sparpolitik gewertet werden. Viele haben künftig mehr Geld im Portemonnaie, und die öffentlichen Ausgaben werden nicht im gleichen Umfang gesenkt. Per saldo ergibt sich demnach eine Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Das erinnert an die konjunkturpolitischen Empfehlungen des Keynesianismus.

Noch vor kurzem war es öffentlicher Tenor, dass die Wachstumsschwäche und die steigenden Staatsschulden die Folge einer übermäßigen Stimulierung der öffentlichen Nachfrage seien. Um eine Wiederholung dieser fehlgeleiteten Politik zu vermeiden, war der Stabilitätspakt in die EU-Verträge aufgenommen und damit eine neoliberale Sparpolitik als wichtiges Element einer künftigen Europäischen Verfassung festgeschrieben worden. Soll nun zur Überwindung der Wirtschaftskrise beitragen, was gestern noch als Übel galt?

Eine Zunahme der wirtschaftlichen Nachfrage als Folge der Steuersenkung wird nur in dem Umfang eintreten, in dem das zusätzlich verfügbare Einkommen auch tatsächlich ausgegeben wird. Nun werden die geplanten Steuersenkungen die oberen Einkommensschichten stärker entlasten als die unteren. Dass in neue Produktionsanlagen investiert wird, ist wegen der bereits vorhandenen Überkapazitäten unwahrscheinlich. Da der Anteil des Einkommens, der gespart wird, mit dessen Höhe steigt, wird sich die steuerliche Entlastung reicher Haushalte nur zu einem kleinen Teil auf den Konsum auswirken. Bei den mittleren und erst recht den unteren Einkommensschichten fällt nicht nur die Entlastung durch die Steuersenkung geringer aus als bei den oberen. Auch werden sie in Zukunft einen größeren Teil ihres Einkommens zur Finanzierung der privaten Gesundheits- und Rentenversicherung aufwenden müssen.

Die Angst vor mangelnder sozialer Absicherung zumal unter der Bedingung steigender Arbeitslosigkeit führt schon jetzt dazu, dass in den privaten Haushalten so viel gespart wird wie möglich. Dies ist einer der Gründe, weshalb der konjunkturelle Abschwung des Jahres 2001 in eine noch immer anhaltende Stagnationsphase übergegangen ist. Die Folge geringerer Einkommenssteuern wird demnach eine stärkere Vermögensbildung bei den oberen Einkommensschichten sein, während die BezieherInnen mittlerer Einkommen zur Sicherung ihrer gesellschaftlichen Position mehr sparen werden als bisher.

Und das müssen sie auch. Die Sparpolitik im Sozialbereich und bei der Bereitstellung öffentlicher Güter wird ja trotz steuerlicher Entlastungen fortgesetzt oder – um die steuerlichen Mindereinnahmen des Staates wenigstens teilweise auszugleichen – noch ausgeweitet werden.

Eine Steigerung des Konsums als Folge geringerer Steuern wäre nur von den Angehörigen der unteren Einkommensgruppen zu erwarten, bei denen das Geld oft nicht bis zum Monatsende reicht. Sofern deren Einkommen jedoch unterhalb des steuerlichen Grundfreibetrages liegt, werden gerade sie von den anstehenden Steuersenkungen nicht begünstigt. Somit wird sich das aus früheren Stagnationsphasen bekannte Phänomen wiederholen, dass diejenigen, die Geld haben, es nicht ausgeben, während diejenigen, die es ausgeben würden, keines haben.

Steuersenkungen für die Reichen, Sparpolitik zu Lasten der Armen und ein gescheiterter Streik – so lässt sich die aktuelle Wirtschaftspolitik in Deutschland umschreiben. Eine ähnliche Situation gab es zu Beginn der achtziger Jahre in den USA, als streikende Fluglotsen ihre Forderungen nicht durchsetzen konnten. Ihre Niederlage markierte den Beginn der neokonservativen Revolution gegen den Sozialstaat und die Gewerkschaften.

Das Versprechen dieser Revolution, an das auch erhebliche Teile der ArbeiterInnenklasse glaubten, lautete: Die Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit und die Inflation, die in den siebziger Jahren angeblich durch das Zusammenspiel von Big Government und Union Bosses verursacht worden waren, könnten durch eine neuerliche Prosperitätsphase abgelöst werden. Notwendig dazu seien lediglich die Zerstörung des Sozialstaates und die Entmachtung der Gewerkschaften. Zwei Jahrzehnte später stehen die USA am Rande einer Deflation und können Reichtum für wenige nur noch durch Armut und Arbeitslosigkeit für viele erzeugen.