HipHop von der Endstation

»Prag – Das ist nicht nur die Brücke und die Burg«, rappt die Band Peneri strycka Homeboye. Aus der Prager Musikszene berichtet jaroslav rudis

Wo findet man moderne tschechische Lyrik? Wo kann man den Soundtrack zu Prag 2003 hören? Sicher nicht am Wenzelsplatz, wo der heilige Wenzel für italienische Touristen posiert. Fündig wird man eher, wenn man die U-Bahn nimmt, den schnellen und schweren Zug aus sowjetischer Produktion, um mit der Linie C in Richtung Südstadt zu fahren. Hier spürt man nichts von der hektisch-touristischen Atmosphäre des Wenzelsplatzes. Das ist das Prag ohne Blattgold.

Háje – Wälder, heißt die Endstation der Linie C. Heute sieht man vor allem die großen Plattenbauten. Auf einem breiten Asphaltplatz sitzen ein paar Jungs in kurzen Hosen. Sie kiffen und sprechen über die letzte HipHop-Party im »Palác Akropolis« in Zizkov, dem alten proletarischen Kneipenviertel. Zizkov ist weit weg von hier. Alles ist weit von hier. Aber der beste tschechische HipHop kommt von hier, aus der Südstadt, der Jizak, wie das Viertel auf Pragerisch heißt. »Jizak ist eine Traumstadt« rappte in den achtziger Jahren die erste tschechoslowakische HipHop-Band Manzelé.

»Hier bin ich aufgewachsen. Ich mag die Südstadt«, erzählt Indy von der Band Indy a Wich. »Hier sind auch die tschechischen Graffiti entstanden. Die Graffiti kamen übrigens von Berlin nach Prag. Mitte der Neunziger hat Berlin uns stark beeinflusst, wir waren auch einige Male zum Zeichnen dort.«

Auch die andere derzeit wichtigste tschechische HipHop-Band, Peneri strycka Homeboye, stammt aus der Südstadt. »Dieser Ort hat einfach etwas Zauberhaftes«, sagt der Rapper Indy. »Zu sozialistischen Zeiten wurden hier mehr Kinder geboren als woanders. Dieses Stück von Prag war sehr lebendig. Hässlich, aber es ist nicht so weit in den Wald oder in die Felder, überall gibt es Spielplätze. Heute hat sich die Bevölkerung geändert, die reicheren Leute ziehen weg, die Armen kommen hierher, die Jugendlichen haben Probleme mit Drogen.« All das spiegelt sich wider in seinen Texten, die politisch und poetisch zugleich sind. Er gehört zu den talentiertesten tschechischen Lyrikern. Dabei schreibt er keine Gedichte, sondern macht Hip Hop. Mit ihrer Debütplatte »My 3« gelang seiner Band im vergangenen Jahr ein großer Erfolg. »Ab und zu schreibe ich sogar Gedichte, aber veröffentlichen möchte ich sie nicht. Es ist romantischer Shit«, lacht Indy.

Im Bezirk Vinohrady hat der Sender Radio 1 sein Studio. Jana Komanková ist dort Moderatorin und einer der am besten informierten Menschen, was die Prager Musikszene betrifft. Der Sender ist die Stimme der Szene. Und Jana ist eine der Stimmen des Senders. »Radio 1 spielt für die Szene eine fundamentale Rolle. Vieles ist in Prag nur durch das Radio passiert, viele Leute haben sich durch das Radio 1 getroffen, obwohl sie dessen Studio nie betreten haben«, erläutert sie die Bedeutung des ersten unabhängigen Senders nach der Wende. Heute ist Radio 1 der einzige Sender in der Stadt, der mehr bietet als seichte Popmusik – Alternative, Electronic, Independent, Worldmusic.

Jana spielt mir ein paar tschechische Dance-Singles vor, wir sprechen über die Chancen tschechischer Musik im Ausland. Davon wird viel geträumt, aber Jana ist skeptisch. »Ich versuche immer daran zu glauben, dass jemandem der Durchbruch gelingt. Aber leider macht kaum jemand Musik, die originell klingt, ohne dilettantisch zu sein.« Ständig finde sich nur »die tschechische Antwort« auf dieses und jenes. »Oder es gibt alternative Bands, die aber mit ihrer Musik in den achtziger Jahren stehen geblieben sind.«

Zu den Ausnahmen zählt sie die HipHop-Bands Indy und Wich, die Gruppe The Ecstasy of St. Theresa und Tata Bojs, die an einem experimentellen Pop basteln. Zuerst hat nur Radio 1 Tata Bojs gespielt. Jetzt sind sie überall zu hören. Überall in Tschechien, sie singen ja nur auf Tschechisch. »Heute gibt es in Prag mehr Clubs als potenzielle Besucher,« sagt Jana. »Wenn du in den Club ›Matrix‹ in Zizkov gehst, ist es immer halb leer. Trotzdem werden immer neue Clubs eröffnet.«

Abends im »Palác Akropolis« in Zizkov. Hier spielen die besten und erfolgreichsten tschechischen Clubbands, gleich welcher Richtung. Dazwischen treten ausländische Acts auf, Henry Rollins oder Walkabouts. Heute will eine internationale Getränkefirma die beste tschechische Nachwuchsband ermitteln. Auf der Bühne wechseln sich die fünf Finalisten ab. Das Publikum jubelt, außer den Freunden der Musiker ist kaum jemand gekommen.

Auf der Bühne gibt man sich alle Mühe, Jana Komankovas Urteil zu bestätigen: Zwei der Gruppen klingen wie die tausendste Kopie von Rage Against the Machine, die nächste langweiliger als Jethro Tull, die nächste arbeitet an einer Wiederbelebung von Janis Joplin. Nur eine Gruppe hebt sich ab und versucht es mit Elektrogitarren-Pop und intelligenten Texten. Sie heißen 100 Grad Celsius und gewinnen den Hauptpreis: einen Vertrag mit einer großen Plattenfirma, einem Major, wie man jetzt auch in Prag sagt.

»Sie waren die Besten«, bestätigt Jan P. Muchow, der mit anderen Musikern in der Jury saß. Er gehört zu einer der wenigen von Jana geadelten Bands, The Ecstasy of St. Theresa. Sie haben schon lange einen Major-Vertrag. Muchow spielt Gitarre, die nicht nach Gitarre klingt und Elektroinstrumente, die nicht unbedingt elektronisch klingen müssen. Anfang der neunziger Jahre gehörte Ecstasy zu den Gründern der Prager Szene der Nachwendezeit.

»Meine Generation ist nicht mit tschechischer Musik groß geworden. Die konnte man in meiner Jugend kaum hören«, sagt er und denkt dabei an Karel Gott oder Helena Vondrácková. »Musikalisch geprägt haben mich Sonic Youth, The Cure, The Smiths oder New Order.«

Viele Bands der hektischen frühen Jahre haben sich inzwischen aufgelöst. Nicht so The Ecstasy of St. Theresa. Zuerst spielten sie psychedelische Music, dann hat sich die Gruppe von den lärmenden Gitarren befreit und begann zu experimentieren, mit dem Sound genauso wie mit der Stimmung. Die Band hat bereits Mitte der Neunziger in England produziert und dort mit der EP »Fluidtrance Centauri« einen Independent-Erfolg gelandet. Jetzt versucht es Jan P. Muchow mit der Sängerin Katerina Winterová erneut. Ihre im letzten Jahr veröffentlichte gemeinsame, zart-melancholische Platte »Slowthinking« erscheint in diesen Tagen in Großbritannien, zwei Videos laufen bereits auf MTV.

Spielen sie den tschechischen Sound von heute? »Als wir in London aufgenommen haben, meinten die Leute vom Studio, wir klängen nach Kafka«, berichtet Muchow. »Ich weiß zwar nicht genau, was sie damit gemeint haben, aber unsere Musik hat sicher mehr mit der Moldau zu tun als mit der Themse. Für mich ist es aber nicht wichtig, dass unsere Musik typisch tschechisch klingt. Wichtig ist, dass sie gut und interessant klingt.« Und das tut sie.

Der Autor ist Journalist, Schriftsteller und Musiker. Sein Buch »Der Himmel unter Berlin. Rockgeschichten aus der Berliner U-Bahn« (2002) erscheint nächstes Jahr im Rowohlt-Verlag auf Deutsch.