Tour de Trance

in die presse

Ein Mitarbeiter des Tagesspiegels möchte man sein. Dann bekäme man vermutlich, bevor man sich an den Computer setzte, um einen Text zu schreiben, halluzinogene Drogen verabreicht.

Anders ist der Leitkommentar über den »Helden Ullrich« von Jürgen Schreiber vom Mittwoch vergangener Woche nicht zu erklären. Oder war es die Hitze? Saß der Autor nur zu lange vor dem Fernseher ? Als er Jan Ullrich sich hinter dem Amerikaner Lance Armstrong, dem »Präzisionsautomaten«, abstrampeln sah, hatte Schreiber offenbar eine Vision. Er erkannte, was uns das Comeback Jan Ullrichs wirklich sagen will, was all das für unser Land eigentlich bedeutet.

»Es sind unsichere Zeiten in Deutschland«, analysierte Schreiber. »Individuelle Interessen zerfließen zum diffusen Bild einer Gemeinschaft, die sich im Idealbild gern von der Weltspitze her definiert, aber in Wirtschaftsflaute und Arbeitslosigkeit zunehmend als deklassiert empfindet.« Wer aber hilft den Deklassierten? Eine große Koalition bestimmt nicht. »Rot-Grün noch CDU bieten in der Negativentwicklung bisher eine tragbare Vision. Jan Ullrich stößt als Ersatzmann gleichsam in dieses Vakuum, schafft ein Parallelgefühl zur Misere, erfüllt die Sehnsucht nach Sinnstiftung durch Erfolg.« Ersatzmann im Vakuum? Parallelgefühl zur Misere? Ecstasy? Oder schwarzer Afghane? Wir werden es wohl nie erfahren.

Schreiber fantasierte und halluzinierte weiter: »Die Tour inszeniert die Rätsel des Lebens in Tagesetappen. So gesehen haben die Deutschen die von Ullrichs wundersamer Rückkehr ausgehende Botschaft vielleicht noch nicht ganz begriffen: Von Jan lernen, heißt, in die Gänge kommen zu lernen.«

Vielleicht war es ja doch eher Crack, was Schreiber inspirierte. Ullrich jedenfalls wurde ein französischer Kreisverkehr zum Verhängnis. Lance Armstrong gewann die Tour. Und Deutschland bleibt deklassiert.

stefan wirner