Gewalt durch Musik

Archaisch, geschichtsbewusst, anders: Kevin Martin aka The Bug sprengt die letzten Fesseln des Dancehall. von hartwig vens

Als ich das Album konzipierte, überlegte ich, nach Berlin zu ziehen. Ich war völlig pleite und hatte keine anderen Aufträge, und normalerweise wäre meine Reaktion auf diese Situation, die höllischste, infernalischste, krachigste, zornigste Musik zu machen. Aber diesmal ging ich in die andere Richtung und fing an, an den deeperen Tracks zu arbeiten, die dann auf das Album kamen. Ich nutzte die Situation auf fast meditative Art eher zur Implosion statt zur Explosion.«

Nicht dass uns die Explosion erspart geblieben wäre, Gott sei Dank. »Pressure« von The Bug alias Kevin Martin ist das Album der Stunde. Auf einen derartigen Schock gewalttätiger Energie, fremdartiger Stimulanz und visionärer Getriebenheit hat die Welt lange gewartet. The Bugs Musik ist eine bahnbrechende, funkensprühende Synthese aus Ragga und Elektronik.

Nun wird natürlich auch Dancehall elektronisch produziert. Die Beats und die Effekte, die Kevin Martin verwendet, sind allerdings eindeutig technoider Herkunft. Hinzu kommt ein absoluter Bass-Fetischismus. Die Tiefen des Dub geben der hyperaktiven Ragga-Agitation eine ganz neue Dimension. Unter der stelzenden Monotonie robotischer Beats und monomanischer Wortsalven wabert der abgründige Sumpf der Frequenzen. The Bugs Musik ist wie ein dumpfer Schlag in die Nieren, ein Stromstoß unter die Schädeldecke, ist von großer poetischer Würde und meditativer Kraft. Besessenheit heißt das passende Stichwort zum Produzenten wie zu dessen Musik.

Kevin Martin war schon immer ein Protagonist des Brachialen. Punk, Industrial, Free Jazz und Noise und später die Hardcore-Variationen von Techno und HipHop beackerte er mit seinen Projekten God, Godflesh, ICE und Techno Animal. Damit attackierte er entschieden das Publikum, zielte auf Zerstörung der Rhythmus- und Songstrukturen. Als Ausdruck der Schimäre vom Glück ausgemacht, mussten die Harmonien zerschlagen, das Wohlgefühl angegriffen werden. Irgendwann hatte Kevin Martin davon genug.

»Die Leute im Publikum waren immer ziemlich vorhersehbar: wie sie aussahen, wie sie reagierten und was sie wollten – weiße Männer auf der Suche nach dem Lärm-Kitzel. Ich fragte mich zunehmend, was das wert ist. Ich lebe in Alperton in West-London, einer Gegend mit einem sehr großen indisch-pakistanischen Bevölkerungsanteil. Weiße sind dort in der Minderheit. Wenn du also offen für kulturelle Veränderung bist und es dir gefällt, in einer multikulturellen Gesellschaft zu leben, warum machst du dann Musik, die nur eine Kultur und ein Geschlecht anspricht? Das hat mich dazu gebracht, Fragen zu stellen, und die Arbeit als The Bug hat mir geholfen, diese Fragen zu beantworten. Es geht nach wie vor darum, die Leute herauszufordern, aber nicht, von Anfang bis Ende auf sie einzuprügeln.« Was nun nicht heißen soll, dass Martin seinem Publikum künftig die Ohren kraulen würde: »Ich genieße noch immer Reibung in der Musik, genieße die Intensität harscher Klänge. Aber ich liebe auch Basslines, Vocals und Songs. Es geht mir um multidimensionale Musik. Ich giere nach Sound. Ich will, dass er Körper und Geist attackiert. Ich will Sinnlichkeit, und ich will absolute Gewalt durch Musik.«

Kevin Martin potenziert die aggressiven Potenziale des Ragga mit ebenso rückhaltloser wie verfeinerter Brachialität. Die Faszination (weißer) musikalischer Extremisten für Sex und Gewalt hatte ja immer schon eine offene Flanke zu faschistoider Gedankenwelt (Stooges, DAF), sie hat zugleich jedoch eine Musik von immenser Energie und innovativer Sprengkraft hervorgebracht, die nicht zuletzt auf der Anfrufung primärer Instinkte basierte.

»Der Sex und die Gewalt im Ragga ziehen mich an, kein Zweifel. Es bringt die Musik zurück zu primitiven, fundamentalen … ich würde fast sagen: Ritualen. Mich fasziniert der direkte Kontakt im Dancehall zwischen Künstler und Publikum, der Funke, das Energielevel, darauf fahre ich völlig ab.«

Martins Begeisterung für schwarze Musik, ihre Protagonisten und ihre Philosophie, seine multikulturelle Selbstpositionierung lassen kein Abdriften in romantische Welten zu. Die Konfrontation, die gerade auch in den Texten zum Ausdruck kommt, ist eine unmittelbare, oftmals absurd übersteigerte. »Pressure« beginnt mit dem Stück »Politicians & Paedophiles« und den unglaublichen Lyrics des unglaublichen Daddy Freddie. Martins abstruse Analyse:

»Daddy Freddy redet davon, wie Pädophile und Politiker für ihre Verbrechen gelyncht werden sollten. Je mehr ich über den Text nachdachte, je mehr ich ihn mir zu erklären versuchte, desto mehr stellte ich die Ähnlichkeit fest, dass Pädophile ihre Opfer auf genau die gleiche Art ausnutzen wie Politiker ihre Wähler oder Nichtwähler. Es war nur komisch, dass er im gleichen Atemzug Tony Blair und Glary Glitter herausgriff als Leute, die man hängen sollte.«

Daddy Freddy, mit 500 Silben pro Minute als schnellster Rapper der Welt im Guiness-Buch der Rekorde verzeichnet, ist einer der Helden des Raggamuffin, ein Stil, der mit seinen sex- und gewaltgeprägten Lyrics Ende der Achtziger die Realität der Straße in die Reggae-Lyrics zurückbrachte. Seine beiden Performances gehören mit ihrer entfesselten Lust am Irrsinn zu den Highlights des Bug-Albums. Überhaupt lässt das Ensemble von Wort-Performern auf »Pressure« den Kenner mit den Ohren schlackern. Der schon von etlichen Stücken der Berliner Produzenten Rhythm and Sound bekannte Crooner Tikiman, Toastie Taylor, Rapper des HipHop-Kollektivs New Flesh For Old, die Jamaikanischen Toaster Wayne Lonesome und He-Man: alle mit von der Partie. The Bugs jüngste Single »Gun Desease« featured Cutty Ranks, wie Daddy Freddie eine Legende der jamaikanischen Hardcore-Lyrics, der seine berufliche Karriere als Metzger begann, um das Gemetzel später mit Worten weiterzuführen.

Live-MC auf der jüngsten Tour war der junge Londoner Russ Bogle: »Kevin hat mich angerufen, und ich hatte vorher keine Ahnung, was mich erwarten sollte. Das Album hat Dancehall auf eine neue Ebene gebracht. Was mich zuerst faszinierte, noch bevor ich das Album gehört habe, war die schiere Liste von Namen. Das waren Leute, die ich gehört hatte als ich aufgewachsen bin: Cutty Ranks, Daddy Freddy. Ich legte das Album auf, und es war einfach unglaublich intensiv. Es bringt Reggae dahin zurück, wo er für mich herkam und hatte eine starke politische Message, getrieben durch Aggression; die die Leute dazu bringt, aufzustehen, hinzuhören.«

Durch ein derart aggressives Future-Shock-Album wie das von The Bug spinnt sich der Mythos von Dub genauso wie der von Ragga fort.

The Bug: Pressure. Klein Records