Der Gründer

»Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen! Rahn schießt!«
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Deutsche Demokratien haben die seltsame Angewohnheit, ihren Gründungsmythos im Ausland anzusiedeln. Die Weimarer Republik begann mit einem Vertrag in Versailles. Und die Bundesrepublik begann mit einem Wunder in Bern. Am 4. Juli 1954. Fast fünf Jahre nach der Staatsgründung besiegte die deutsche Nationalmannschaft die hoch favorisierten Ungarn mit 3:2. An allen drei Toren war ein Mann beteiligt, den sie den »Boss« nannten, Helmut Rahn. Den Anschlusstreffer von Max Morlock bereitete er vor, den Ausgleich und den Siegtreffer besorgte er selbst. Mit seinen Toren half der Boss bei der Geburt eines neuen deutschen Selbstbewusstseins, bei diesem »Wir sind wieder wer«, in dem immer so unschön miefige Assoziationen an Nierentisch, Doppelrahmstufe und Kriegserklärung mitschwangen.

Helmut Rahn wurde am 16. August 1929 in Essen geboren. Er lernte Autoelektriker, aber vor allem spielte er Fußball. Rechtsaußen im Sturm, trickreich und mit starkem Schuss. 1951 verpflichtete ihn Rot-Weiß Essen. In seiner ersten Saison gewann Rahn mit RWE den Pokal. Und da er Tor auf Tor schoss, fand er sich bald im Aufgebot von Sepp Herbergers Nationalteam wieder. Eigentlich war Rahn gar kein Spieler nach Herbergers Geschmack. Zu laut, zu spaßig, zu oft abends in den Kneipen unterwegs. Im Trainingslager war er der Clown der Mannschaft. Er sperrte eine Taube in den Nachttisch von Morlock, oder er begann, auf einem Balkon lautstark grölend eine Marktfrau zu parodieren. In der Vorrunde der WM 1954 setzte der Bundestrainer ihn nur sporadisch ein. Doch für das Finale in Bern, gegen die gewandten Ungarn, schien er der richtige Mann.

»Keiner wankt, unaufhörlich prasselt der Regen hernieder.« Mit diesen Worten leitete der Rundfunkreporter Herbert Zimmermann seinen Kommentar des Spielzuges in der 84. Minute ein, der den Sieg bringen sollte. Der Ball war also noch gar nicht im Netz, als schon die Grundzüge bundesrepublikanischer Mentalität angedeutet wurden: unoriginell, aber hart im Nehmen und eine Niederlage gar nicht erst ins Kalkül ziehend. So hatte das Team auch gespielt: einen 0:2-Rückstand binnen zehn Minuten egalisiert und sich eine Stunde lang den Angriffen entgegengestemmt. Dann wurde es Zeit für den Boss und den berühmtesten Konjunktiv der deutschen Geschichte: »Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen! Rahn schießt! – Tooor!« Die Spieler waren noch nicht zuhause, als sie bereits die »Helden von Bern« genannt wurden.

In dieses Heldenbild hat Rahn nie so recht gepasst. Zwar wurde er mit Essen noch Meister, wechselte später nach Köln, Enschede und Duisburg, aber der Zauber war fort. Die Kneipenbesuche häuften sich, und zur WM 1958 hatte er alle Mühe, sein Bierbäuchlein loszuwerden. Dann allerdings traf er sechsmal, ebenso häufig wie Pele.

Nach 40 Länderspielen und mit der historischen Leistung, als erster Spieler in der neuen Bundesliga des Feldes verwiesen worden zu sein, beendete er 1965 seine Karriere. Zusammen mit seinem Bruder eröffnete er einen Autohandel. Von den Weltmeistern hielt nur noch Fritz Walter bis zu dessen Tod mit ihm Kontakt. In der Nacht zum 14. August ist auch Boss Rahn gestorben. Zurückgezogen, nach langer Krankheit, in seiner Heimatstadt Essen.

knud kohr