»Die Scherben waren Selbstbefreiung«

Wolfgang Seidel

Die Gruppe Ton Steine Scherben und ihr Sänger Rio Reiser sind auch Jahre nach der Auflösung der Band und nach Reisers Tod noch immer ein wichtiger Bezugspunkt für viele deutschsprachige Bands. Zugleich wird von der Plattenindustrie und von den Erben Reisers auch an einer Kultfigur Reiser gearbeitet, bei der jedoch die politischen Aspekte seines musikalischen Schaffens weitgehend unter den Tisch fallen.

Jörg Sundermeier sprach mit Wolfgang Seidel, Mitbegründer von Ton Steine Scherben, der Anfang der siebziger Jahre die Gruppe verlassen hat. Er arbeitet als Grafiker in Berlin.

Was ärgert dich an dem heutigen Umgang mit Rio Reiser und Ton Steine Scherben?

Die Strategie der Erben von Rio Reiser – da es kein Testament gab, sind das seine Verwandten – ist die: Sie bauen die gesamte Scherben-Geschichte in eine Familiensaga um. Es wird eine Geniekult um Rio betrieben, der die Frage nach den Maßstäben aufwirft: also etwa Grab auf dem Familienanwesen, dem legendären Scherben-Bauernhof in Fresenhagen, dann der Kult um die Totenmaske und so. Es kommt mir vor, als solle er in eine Reihe mit Goethe und Nietzsche gestellt werden. Und da ist das Problem, denn das Verbindende zwischen Nietzsche und Goethe ist erstens: groß und zweitens: deutsch. Sonst gibt es da nichts.

Mal abgesehen von dem Reiser-Goethe-Vergleich – so ein Kult ist doch das Gegenteil dessen, wofür die Scherben standen.

In dem Songbuch, das jetzt wieder rauskommt (Download auf http://www.riolyrics.de), beginnt die Einleitung mit den Worten: »Was wir gemacht haben, kann jeder machen.« Das beißt sich mit der Interpretation der Familie. Die Scherben wollten die Leute nie einfach nur als Konsumenten und Käufer ansehen, sondern wollten, dass die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. »Alles verändert sich, wenn du es veränderst«, hieß das. Die Familie dagegen veranstaltet einen Tarot-Kurs in Fresenhagen. »Keine Macht für niemand« heißt aber auch: keine Macht dem Horoskop.

Dieser Geniekult – wie wird der im HInblick auf den Musiker Reiser betrieben?

In der Biographie beim Rio-Reiser-Verein – beides, sowohl Reiser-Archiv wie der Verein sind Aktivitäten von Reisers älteren Brüdern – steht immer so was wie »Rio schuf«, »Rio erschuf«, und selbst die kleinste Nebenrolle in einem Film wird endlos abgehandelt. Immer ist die Familie dabei, umgekehrt schrumpft die Zeit mit den Scherben, immerhin 15 Jahre, zusammen. Dabei war das Rios wichtigste Zeit. Es war ein Akt der Emanzipation für alle Scherben-Mitglieder – und Rios Emanzipation war die von der Familie, in deren Kleinkunst-Programmen Rio zuvor immer nur einige musikalische Glanzlichter setzten durfte. Die Scherben waren die Selbstbefreiung für uns alle. Die Brüder von Rio gingen Anfang der sechziger Jahre mit ihren Theatergeschichten zur Arbeiterklasse, sie gingen in ein Lehrlingsheim, um dort Theater zu machen. Die Lehrlinge waren begeistert, doch, was sie nicht sein wollten, war, was Peter Möbius, ein Bruder Rios, später nannte: Jugendliche, die unter meiner Anleitung Theater machen. Sie leiteten sich lieber selbst und gründeten das Theater »Rote Steine«. Rio wechselte dann vom Familienunternehmen zu den »Roten Steinen« – das war der Anfang der Scherben.

Welche Auswirkungen hat der Kult?

Heute wird sehr viel über die Person Rio Reiser geredet, aber wenig über das, was in den Scherben sonst noch drin war. Erstaunlich wenig wird vom Rio-Reiser-Archiv, das stolz darauf ist, jeden von Rio beschriebenen Zettel zu horten, über die Inhalte der Lieder geredet.

Ist das Verrat an den Scherben?

Verrat ist eine Vokabel, die ich nicht mag, weil sich die Scherben das Wort immer von diversen Gruppen anhören mussten, die sie gerade zu instrumentalisieren gedachten. Und offensichtlich findet diese Instrumentalisierung ja bis heute statt. Genau das ist auch der Anlass für die Internetveröffentlichung von »Guten Morgen«. Es war für die Band mehr eine politische Standortbestimmung, zu jedem Songtext findet man eine kleine politische Geschichte, die hilft, den Song zu verstehen, und zeigt, in welchem Kontext er zu verstehen ist. Man wird dabei überrascht sein. Zu »Keine Macht für niemand« haben wir im Buch Bob Dylans »All I really wanna do« gesetzt, wo es um Machtverhältnisse zwischen zwei Menschen geht, das heißt, die Scherben haben Machtverhältnisse auch für das Private denken können. Oder das Interview mit einer amerikanischen Straßenkämpferin, da wird sie nicht nach Rezepten für Molotowcocktails gefragt, sondern danach, wie sie mit den Männern in ihrer Gruppe zurande kommt.

Es gibt ja auch den Rio-Reiser-Songpreis, der seit 2001 ausgeschrieben wird.

Ich war einigermaßen pikiert, als ich die Presseerklärung 2001 las, dass das Motto des Songpreises »Heimat« war. Es fand sich dort die Aufforderung, die Heimat zu besingen, und gleichzeitig stand dort: keine Parteiprogramme. Nun mag ich auch keine vertonten Parteiprogramme, doch hier wird das Werk der Scherben ganz klar entpolitisiert. Es wird behauptet, obwohl es gar nicht stimmt, dass die Scherben eine der ersten »deutschen« Rockbands waren. Dabei haben sich die Scherben immer mit internationalen Bands verglichen, ganz wichtig war da etwa MC5. Es gibt ein Interview aus Rios PDS-Zeit, in dem er den Verlust von Heimat als eine der Ursachen des Rechtsradikalismus ortet. Darauf berufen sich die Leute heute, aber, bei allen Wirrungen und Irrungen in Rios Leben, das entspricht doch nun wirklich nicht dem, was die Scherben je wollten. Dabei geht es den Erben auch darum, Reiser und die Scherben zu trennen, doch die Fans haben diesen Schritt nie nachvollzogen. Der Songpreis dieses Jahres – das Motto »Ich will ich sein« klingt unverfänglich – hat als Sponsor den Verein Deutsche Sprache (VDS) und die Bundeszentrale für politische Bildung. Für eine Band wie die Scherben ist es zu einer Institution wie dieser Bundeszentrale dann doch ein sehr weiter Weg, vom VDS ganz zu schweigen, der mit seinen Attacken gegen »kulturelle Selbstaufgabe« und »nationale Selbstdemütigung« eine ziemlich große Schnittmenge mit Positionen der extremen Rechten hat. Man hat das Gefühl, die Band soll heimkehren in die Mitte des Landes.

Ist der Rest der Band genauso empört?

Die Band ist gespalten. Rios engster Freund und Komponist musste den Bauernhof nach juristischen Auseinandersetzungen verlassen, die Erben von Rio verkaufen das so, als hätte er sich in den sonnigen Süden abgesetzt, dabei wohnt er in einem Bauwagen, und es geht ihm alles andere als gut. Zu ihm habe ich noch Kontakt. Ein großer Teil der Band aber kooperiert mit den Erben, denn die sind auf der Seite vom Brot, wo die Butter ist. Die müssen auch sehen, wo sie bleiben.

Wie sind aktuelle Entwicklungen in der so genannten deutschsprachigen Musik zu beurteilen, gerade auch bei Bands, die sich auf die Scherben berufen?

Nun es kommt immer drauf an, was es ist. Rios Erben klopfen sich auf die Schulter, weil Nena oder Marianne Rosenberg sich auf die Scherben, mehr noch auf Rio Reiser berufen, und mich freut es dann eher, wenn es die Goldenen Zitronen sind, die wiederum für die Erben als nicht so interessant gelten. Über Projekte wie »Erben der Scherben«, mit dem Department oder Nina Hagen, haben die Familie und ihr Verein dann auch eher hinweggesehen, weil das Projekt zu sehr an die Scherben in ihren besten Zeiten erinnert hat. Demnächst erscheint nun ein Tribute-Album, das ihnen besser gefallen wird. Es trägt den denkwürdigen, Gegensätze zukleisternden Titel »Familienalbum«, dort reicht dann die Spannweite von Fettes Brot über Nena zu Joachim Witt. Der einzige gemeinsame Nenner dieser Künstlerinnen und Künstler ist halt: Man singt deutsch.