Paranoia in Cancún

Globalisierungskritiker wollen das WTO-Treffen im mexikanischen Cancún »entgleisen« lassen. Vielleicht scheitert es aber auch von selbst. von wolf-dieter vogel, mexiko-stadt

Wieder einmal läuft alles a la méxicana. »Es ist fünf vor zwölf«, meint der Politaktivist Hector de la Cueva, und noch immer sei vieles nicht organisiert. Genau genommen ist es schon zehn nach zwölf, und das bundesweite Vorbereitungstreffen für die Aktionstage gegen die fünfte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) am letzten Samstag hätte schon ungefähr zwei Stunden vorher anfangen sollen. Aber erst jetzt trudeln die Vertreter und Vertreterinnen der Gruppen ein, die gegen das WTO-Treffen in Cancún auf die Straße gehen wollen: Bauernverbände, Gewerkschafter, Globalisierungskritiker, Frauenorganisationen, Indígenas. Trotzdem ist man beim Bündnis »Espacio Mexicano« hier in Mexiko-Stadt zuversichtlich. »Lassen wir die WTO entgleisen«, heißt es auf einem Plakat, mit dem die Linke für den 7. bis 14. September in den karibischen Badeort mobilisiert.

Auch der Gegner ist spät dran. Mitte vergangener Woche einigten sich Unterhändler der USA und der Europäischen Union auf einige Formeln zum Abbau von Agrarsubventionen. Damit seien »die Chancen gestiegen«, dass in Cancún »substanzielle Fortschritte« erzielt werden könnten, erklärten Diplomaten in Genf, dem Sitz der Organisation. Im US-amerikanischen Landwirtschaftsministerium wollte man noch nicht von einer Einigung sprechen.

Die vorsichtigen Formulierungen haben ihren Grund. Die Agrarpolitik ist der umstrittenste Punkt innerhalb der WTO. Ohne eine Einigung über die Subventionen und den Einfuhrzoll für landwirtschaftliche Produkte dürfte es auch bei den anderen Themen kaum zu gemeinsamen Ergebnissen kommen: nicht beim Gats-Abkommen, das die weltweite Liberalisierung von Dienstleistungen regelt, nicht bei den Trips-Vereinbarungen über die Rechte geistigen Eigentums und auch nicht im Rahmen der so genannten Singapore-Issues, unter die beispielsweise ein Investitionsschutzabkommen fällt, mit dem nationale Gesetze außer Kraft gesetzt würden.

Bislang blockierten unterschiedliche Interessen der USA und der EU einen Abbau der Subventionen. So hatten die Europäer darauf beharrt, die Zölle nur um einen bestimmten Prozentsatz zu senken, während die US-Amerikaner einheitliche Höchstzölle für Agrarimporte festlegen wollten. Und Washington klagte vor der WTO gegen das Importverbot genmanipulierter Produkte, das die Europäer verfügt haben. Auch das sorgte für schlechte Stimmung.

»Cancún wird kein zweites Doha sein«, prophezeite deshalb jüngst Walden Bello, der Leiter der Nichtregierungsorganisation (NGO) Focus on the Global South, mit Blick auf das erfolgreiche WTO-Ministertreffen im November 2001 in Katar. Nach den Anschlägen vom 11. September seien sich USA und EU im Kampf gegen den Terrorismus einig gewesen. In diesem Ambiente sei eine Kooperation möglich gewesen, »um Arbeitsprogramme und punktuelle Wirtschaftsverhandlungen anzustoßen«. Optimistisch wurde damals die so genannte Doha-Entwicklungsrunde ausgerufen, um die Überwindung von Handelsbarrieren mit mehr Elan anzugehen.

Doch im letzten Jahr hat sich, nicht zuletzt durch die Auseinandersetzungen um den Irakkrieg, die Stimmung geändert. Nach mehreren ergebnislosen Gesprächen in der Genfer WTO-Zentrale starteten die Streitparteien Ende Juli einen letzten Versuch. Die Handelsminister von 25 der insgesamt 145 in der WTO organisierten Staaten trafen sich im kanadischen Montreal, um zu einem gemeinsamen Ansatz in der Agrarpolitik zu kommen. Aber auch bei diesem Treffen konnte man sich nicht einigen.

Die nunmehr in der vergangenen Woche getroffene Vereinbarung ist ein Mischmodell, das US-amerikanische und europäische Konzepte verbindet. Konkrete Zahlen, etwa darüber, bis wann in welcher Höhe Zölle oder Subventionen abgebaut werden sollen, nennt der Kompromiss aber nicht. Er dürfte sich also vor allem dem Wunsch verdanken, den Cancún-Gipfel nicht schon vor seinem Beginn scheitern zu lassen. Denn ohne eine sichtbare Bereitschaft der USA und der EU, ihre Exportsubventionen und Produktionshilfen für die heimischen Bauern sowie die Einfuhrzölle für landwirtschaftliche Waren zu reduzieren, hätten sich einige Vertreter der Länder des Südens erst gar nicht auf Verhandlungen eingelassen.

Für die meisten der Organisatoren und Organisatorinnen der Gegenaktivitäten gibt es mit der WTO ohnehin nichts zu besprechen. Gerade Mexiko zeige, wo die von der WTO anvisierte Liberalisierung des Marktes endet. Seit der Nordamerikanische Freihandelsvertrag (Nafta) mit den USA und Kanada im Jahr 1994 in Kraft getreten ist, verschwand in Mexiko knapp die Hälfte der Anbauflächen des wichtigsten Nahrungsmittels Mais. Armando Paredes Arroyo vom staatlichen Nationalen Agrarrat (CNA) befürchtet, dass mit der Realisierung der zweiten Stufe des Nafta-Vertrags Anfang Januar dieses Jahres mittelfristig drei Millionen Bauern ihre Lebensgrundlage verlieren.

Es liegt also nahe, dass Bauernorganisationen wie das mexikanische Bündnis »Das Land hält nicht mehr aus« und der lateinamerikanische Dachverband »Vía Campesina« bei den Mobilisierungen nach Cancún große Bedeutung haben. Während Wirtschaftsexperten sowie Vertreter von 145 Regierungen und 961 NGO auf der Halbinsel im »Centro de Convenciones« über die Zukunft der Agrarpolitik entscheiden, wollen die Bauern auf einem Gegenforum diskutieren.

Auch auf den zahlreichen anderen Foren und Veranstaltungen wollen sich die »Globalifóbicos« Themen widmen, die im Zusammenhang mit den Inhalten der WTO-Ministerkonferenz stehen: gerechter Handel, Krieg und Wirtschaft, Privatisierung der Dienstleistungen, Konsequenzen des Freihandels für die indigene Bevölkerung. In den Tagen vor den Gegenaktivitäten, vom 1. bis zum 7. September, treffen sich Mitarbeiter von freien Radios, von Indymedia und ähnlichen Projekten zu Schulungen und Debatten über alternative Kommunikation. Eine Großdemonstration soll am 13. September stattfinden.

Aber für viele Bauern, Studentinnen oder Indígenas ist ein einwöchiger Aufenthalt nicht zu finanzieren, auch wenn die Veranstalter Zeltplätze organisiert haben. Cancún, die Touristenstadt in der Karibik, zählt zu den teuersten Orten Mexikos. Vielleicht kommen 20 000 Menschen, schätzt das örtliche Comité de Bienvenida vorsichtig: »10 000 Bauern, 2 500 europäische Aktivisten, 300 Koreaner, 3 000 Indígenas aus ganz Mexiko, 2 500 Gewerkschafter und etwa 1 000 Umweltschützer«. Am vorletzten Wochenende hat auch die Zapatistische Armee zur Nationalen Befreiung (EZLN) aus dem südmexikanischen Chiapas nach Cancún mobilisiert. Das zapatistische Wort werde dort zu hören sein, ließ Comandante Zebedeo bei einem Treffen in Oventic wissen. Auf welche Weise, das werde man noch entscheiden.

In der Karibikstadt stellt man sich indes auf das Schlimmste ein. Krawall und Sabotage fürchtet die örtliche Presse, und natürlich das schlechte Licht, das dann auf Cancún fallen könnte. Schließlich war es vor zwei Jahren während eines Treffens des Weltwirtschaftsforums zu heftigen Übergriffen der Polizei auf Demonstranten gekommen. Dass damals, wie Hector de la Cueva bestätigt, »die Gewalt eindeutig von der Polizei ausgegangen ist«, spielt da keine Rolle. Die Hotelbranche verzeichnet derzeit einen Buchungsrückgang von 30 Prozent für die Zeit des WTO-Treffens. Gleichzeitig soll der außerordentliche Besuch jedoch 50 Millionen Dollar in die Kassen bringen.

Aber auch das hält einige Einheimische nicht davon ab, schon jetzt gegen die Globalisierungskritiker mobil zu machen. Nicht nur alle Einheiten der mexikanischen Polizei, so meldet das Comité de Bienvenido, sondern auch »korporatistische Gewerkschaften und Hotelunternehmer haben öffentlich ihre Hilfe und Rückendeckung zugesagt, damit die Autoritäten mit aller Härte des Gesetzes gegen Unruhestifter vorgehen«.