Auf Leben und Tod

Nach dem Suizidattentat von Jerusalem. von stefan vogt

Ein weiteres Mal hat der israelische Ministerpräsident Ariel Sharon den palästinensischen Präsidenten Yassir Arafat gerettet. Mit der »begrenzten Aktion«, bei der die israelische Armee den hochrangigen Hamas-Funktionär Ismael Abu Shanab als Antwort auf den verheerenden Selbstmordanschlag vom Dienstag vergangener Woche in Jerusalem getötet hat, machte Sharon alle Bemühungen zunichte, Arafat die Zustimmung zur Entwaffnung der radikalen Gruppen abzutrotzen. Ähnlich wie vor einem Jahr, als durch die Belagerung von Arafats Amtssitz in Ramallah die palästinensische Debatte um eine Reform des politischen Systems und eine Entmachtung des Präsidenten zum Verstummen gebracht wurde, konnte Arafat auch dieses Mal mit Hilfe der israelischen Regierung die Kontrolle über die Autonomiebehörde und ihre Politik behalten.

Zufrieden können auch die Islamisten sein. Nicht nur, dass der Anschlag eine große Zahl von Juden getötet hat und die nur widerwillig akzeptierte Waffenruhe endlich aufgekündigt werden konnte. Vor allem hat die jüngste Eskalation das Schwinden ihrer Popularität zumindest vorübergehend aufgehalten. Dies wäre aber eine erste Voraussetzung dafür, dass die palästinensische Regierung die Zerschlagung dieser Organisationen durchsetzen könnte, ohne sich selbst zu gefährden. Eine zweite Voraussetzung ist die Entmachtung Arafats. Auch in dieser Hinsicht hat Sharon wieder einmal ganze Arbeit geleistet.

Die am schwersten wiegenden Folgen der israelischen Vergeltungsaktion sind daher keineswegs die zu erwartenden Racheakte der Islamisten. Hamas-Führer Abdel Aziz Rantisi hat zwar bereits angedroht, dass »Ströme von Blut durch Israels Städte fließen« werden. Da es den Islamisten aber nicht um begrenzte politische Ziele geht, sondern um die Zerstörung Israels, kommt es nicht nur nach »gezielten Tötungen« der israelischen Armee zu Terrorwellen, sondern gerade auch in Perioden relativer Ruhe.

Viel bedenklicher sind die innenpolitischen Konsequenzen für die palästinensische Gesellschaft. Wenn sich in den letzten Monaten Hoffnungen auf eine Änderung der katastrophalen Situation im Nahen Osten bemerkbar machten, dann waren sie das Ergebnis von Bestrebungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft, ein Ende der militärischen Intifada und demokratische Reformen herbeizuführen. Hinzu kam, dass auch Tabus in Frage gestellt wurden, die eine Einigung mit Israel unmöglich machten, insbesondere das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge. Sollten die jüngsten Ereignisse den Sturz von Mahmud Abbas zur Folge haben, so wäre dies ein weit schwererer Rückschlag für den Friedensprozess als nur das Ende der Waffenruhe und das Scheitern der Road Map.

Solange die Extremisten als legitimer Teil des palästinensischen Widerstandes gegen die Besetzung gesehen werden, kann es keine Lösung des Konfliktes geben. Die Barbarisierung der palästinensischen Gesellschaft, wie sie in Antisemitismus und Selbstmordanschlägen zum Ausdruck kommt, ist sicherlich nur höchst unzureichend aus den politischen und sozialen Verwüstungen der Besetzung zu erklären. Weit mehr noch ist sie Ausdruck eines dramatischen Zerfalls der Zivilisation an den Rändern der kapitalistischen Ökonomie, in Bereichen, die von jeder Aussicht auf »Entwicklung« inzwischen abgeschnitten sind. Um zumindest hier jedoch dieser weltweiten Tendenz entgegenwirken zu können, muss es zu einem Ende der Besetzung kommen. Für Israelis wie für Palästinenser ist dies eine Frage auf Leben und Tod.