Das Prekäre wird normal

Im September tritt in Italien eine Arbeitsmarktreform in Kraft: Die Beschäftigten sollen flexibler arbeiten, weniger verdienen und auf etliche Rechte verzichten. von carmela mudulu

Angela ist bei einer öffentlichen Verwaltung in Italien beschäftigt. Vier Jahre arbeitete sie ohne festen Vertrag für abhängig Beschäftigte. Sie war als freie Mitarbeiterin tätig. Dennoch musste sie sich an die Arbeitszeiten der Festangestellten halten, und ihr Vertrag wurde jährlich verlängert. Sie durfte an keiner Weiterbildung teilnehmen und einen Anspruch auf Kranken- und Mutterschaftsgeld hatte sie auch nicht. Ihr Vertrag sah weder einen Schutz bei Arbeitsunfällen noch bezahlten Urlaub vor. Angela hat in den vier Jahren als Scheinselbstständige an keinem Streik teilgenommen, denn die verlorenen Arbeitsstunden hätte sie nacharbeiten müssen. Sie hatte einen Vertrag über eine dauerhafte und koordinierte Mitarbeit unterschrieben. Auf Italienisch heißt das »collaborazione coordinata e continuativa« – kurz: CoCoCo.

Die Gewerkschaft CGIL hat verschiedene Erfahrungsberichte von Scheinselbstständigen auf ihrer Internetseite veröffentlicht, die denen von Angela sehr ähneln. Die meisten wissen, dass sie mit einem CoCoCo keine Arbeitnehmerrechte haben. Sie unterschreiben trotzdem, weil sie keine andere Wahl haben.

Ab September wird die Situation der freien Mitarbeiter in Italien noch prekärer werden. Die Arbeitsmarktreform, die in wenigen Wochen in Kraft tritt, wurde von Ministerpräsident Silvio Berlusconi und seinen Regierungspartnern als »eine Revolution« gefeiert. Sie führt nämlich neue Arbeitsverträge ein, mit dem Ziel, die Beschäftigten flexibler arbeiten zu lassen. Gleichzeitig sollen sie aber weniger verdienen und auf diverse Rechte verzichten. Die CGIL spricht von »Self-Service der Prekarisierung« und ruft im September zum Generalstreik auf. Aufhalten kann sie die Reform jedoch nicht. Nach Angaben der CGIL waren im vergangenen Jahr 2,4 Millionen Menschen beschäftigt, die Verträge über eine freie Mitarbeit hatten, allein 500 000 in der Lombardei. Über die Hälfte davon sind Akademiker mit Berufserfahrung und zwischen 30 und 49 Jahre alt. Ihr Verdienst steht in keinem Verhältnis zu ihrer Qualifikation. Im Schnitt verdienen sie etwa 12 000 Euro im Jahr, und ihre Renten werden entsprechend gering ausfallen. Den Arbeitgebern kommen diese Verträge entgegen. Statt Menschen fest einzustellen und Sozialabgaben für sie abzuführen, werden sie als freie Mitarbeiter unbefristet beschäftigt. Die Unternehmen führen dann lediglich einen Mindestsatz in die Renten- und Krankenkasse ab.

Nach der anstehenden Arbeitsmarktreform dürfen keine neuen CoCoCo-Verträge abgeschlossen werden. »Doch die bereits existierenden können unbefristet weiter laufen«, erklärt Alessandro Genuesi, Sekretär beim CGIL-Vorstand in Rom. So sieht es das »Gesetz Biagi« vor, benannt nach dem Arbeitsrechtsprofessor und Berater des Arbeitsministeriums Marco Biagi, der im März 2002 von den Roten Brigaden in Bologna ermordet wurde. Möglich werden zudem befristete Verträge für Projektarbeit oder spezielle Arbeitsprogramme. Der Beitrag für die Rentenkasse soll bei diesen Verträgen von derzeit 12 und 14 Prozent auf 19 Prozent steigen. Doch nach wie vor gibt es kein Geld im Krankheitsfall, dauert die Erkrankung länger als 30 Tage, erlischt das Arbeitsverhältnis sogar. Der unbezahlte Mutterschaftsurlaub darf nur kurze Zeit dauern und es gibt keine Absicherung bei Arbeitsunfällen. Das wahre Problem der Scheinselbstständigen wird nicht gelöst. Die Unternehmen können weiterhin, statt Beschäftigte regulär einzustellen, sie befristet als angeblich freie Mitarbeiter beschäftigen. Gerade kleine Firmen nutzen diese Verträge, um nicht mehr als 15 Beschäftigte anzustellen. Dann nämlich würde für alle der umfassende Kündigungsschutz von Artikel 18 des Arbeitsstatuts gelten, der den Zwang zur Rücknahme einer ungerechtfertigten Kündigung durch den Arbeitgeber und das Recht des Arbeitnehmers auf Wiedereinstellung regelt. Bislang konnten die Unternehmen zudem junge Menschen bis 32 Jahre über Verträge zur Berufsbildung einstellen. Diese sollen jetzt durch so genannte Eingliederungsverträge ersetzt werden, die für junge Menschen zwischen 18 und 29 Jahren vorgesehen sind, für über 45jährige sowie für Frauen in besonders benachteiligten Regionen, zum Beispiel Süditalien. Teilzeitarbeit soll stärker gefördert werden. Allerdings kann der Arbeitgeber leichter Überstunden einfordern.

Die wahre Revolution der Reform sind jedoch für Italien ganz neue Formen der Beschäftigung. »Flexibilisierung« heißt das so oft von der Regierungspartei Forza Italia betonte Ziel. Flexibel sollen die Arbeitnehmer sein, und nicht nur in Bezug auf ihre Arbeitszeiten, sondern auch auf ihre Rechte. Eine Neuerung ist das so genannte »Staff Leasing«. Bislang gibt es Leiharbeit für Einzelpersonen, jetzt sollen sich Betriebe auch unbefristet ganze Teams »leihen« können. Möglich wird auch Arbeit auf Abruf. Die Mitarbeiter werden je nach den Anforderungen des Unternehmens eingesetzt. Der Arbeitseinsatz braucht sogar nur wenige Stunden vorher angekündigt zu werden. Die Beschäftigten bekommen eine »Entschädigung« für ihre ständige Abrufbereitschaft und werden nur für die tatsächlich gearbeitete Zeit entlohnt.

Diese Verträge sind in Europa nichts Neues. Italien passt sich damit nur den anderen Ländern an. Doch die CGIL kritisiert, dass die neuen Arbeitsformen in Italien anders als in anderen europäischen Ländern nicht genügend geregelt sind. Zum Beispiel werden keine Kriterien für die Höhe der »Entschädigung« vorgegeben oder eine Mindestvorankündigungsfrist für den Arbeitseinsatz. Auch das »Job-Sharing«, bei dem sich mehrere Personen einen Arbeitsplatz teilen, lässt noch Fragen offen. Unklar bleibt, was bei längerem Arbeitsausfall auf Grund von Schwangerschaft, Krankheit oder Militärdienst passiert. Ein weiteres Problem ist, dass für die neuen Verträge nicht die Gehälter gelten, die für die regulären nationalen Verträge für abhängig Beschäftigte festgelegt sind. Auch Gewerkschaftsrechte werden beschnitten. »Nicht die Sozialpartner, sondern das Arbeitsministerium wird die Gehälter für die Verträge festlegen, die für die Arbeit auf Abruf gelten. So sieht es das Gesetz vor«, führt Alessandro Genuesi aus. Bei der Reform geht es somit nicht einfach um Flexibilisierung, sondern um den Abbau von Arbeitnehmerrechten. Die schlechte Beschäftigungssituation, gerade in Süditalien, schwächt die Verhandlungsposition von Arbeitssuchenden. Oft lassen sie sich einfach nur auf schlechte Verträge ein, um einen Job zu haben. Wenn bislang normale Angestellte als freie Mitarbeiter oder Auszubildende beschäftigt wurden, was bringt dann die Zukunft? Vollzeitarbeitende, die einen Teilzeitarbeitsvertrag haben? Oder Beschäftigte, die für 50 Euro im Monat das ganze Jahr über abrufbereit sind?