Schiiten im Visier

Der Irak nach dem Anschlag von Najaf. von jörn schulz

»Lass kein erhöhtes Grab zurück, ohne es dem Erdboden gleichzumachen«, lautet eine dem Propheten Muhammad zugeschriebene Anweisung. Die Authentizität dieser Aussage ist ebenso umstritten wie ihre Bedeutung, doch die fundamentalistische Bewegung der Wahhabiten benutzte sie als Rechtfertigung für die Zerstörung schiitischer Grabstätten, in denen sie Orte unislamischen Götzendienstes sah. Bereits 1801 plünderten die Wahhabiten den Schrein Husseins im irakischen Karbala.

Der Wahhabismus, eine extremistische Variante des sunnitischen Islam, ist heute die Staatsdoktrin in Saudi-Arabien und eine wichtige Inspirationsquelle für al-Qaida. War der Anschlag von Najaf, bei dem am vergangenen Freitag mindestens 85 Menschen starben, das Werk sunnitischer Extremisten, die einen Religionskrieg provozieren wollen? Dafür sprechen nicht nur die ersten Ermittlungsergebnisse der Polizei von Najaf, die in den Tagen nach dem Anschlag 19 Verdächtige verhaftet hat. Sie kommen überwiegend aus arabischen Nachbarländern und sollen ihre Verbindungen zu al-Qaida gestanden haben.

Ein Ziel der Massenmörder war Ayatollah Muhammad Bakir al-Hakim, der den Obersten Rat der Islamischen Revolution im Irak (Sciri) führte. Der Sciri beteiligt sich am von den USA eingesetzten Regierungsrat und ist deshalb aus der Sicht des »irakischen Widerstands« eine Organisation von Kollaborateuren. Doch es gibt elegantere Methoden des politischen Mordes als die Zündung von 700 Kilogramm Sprengstoff inmitten einer Menschenmenge, die nach dem Gebet den Schrein des Imam Ali, die heiligste Stätte der Schiiten, verlässt. Der Anschlag richtete sich nicht allein gegen al-Hakim und dessen Anhänger, sondern gegen alle Schiiten.

Al-Nidaa, eine der al-Qaida nahe stehende Webseite, veröffentlichte Ende April eine Stellungnahme, in der die Schiiten zu Feinden des Islam erklärt wurden: »Die Gefahr, die von der Schia für die Region ausgeht, ist nicht geringer als die, die Juden und Christen darstellen.« Dem schiitischen Klerus im Irak wird vorgeworfen, »eilig den Kreuzfahrern die Tore geöffnet« zu haben und »mit ihnen zu kooperieren, um den Irak zu kontrollieren«.

Der antischiitische Fanatismus der al-Qaida scheint sich mit dem Rassismus der Baathisten zu verbinden, die in den Schiiten »Perser« und damit natürliche Feinde der »arabischen Nation« sehen. Es mag unvernünftig erscheinen, sich die größte Bevölkerungsgruppe des Landes zum Feind zu machen. Doch während klassische Konzepte des Guerillakrieges darauf abzielen, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen, will der »irakische Widerstand« durch Angriffe auf die Infrastruktur und die Vertreibung der Hilfsorganisationen Angst und Chaos verbreiten, um nach dem erhofften Abzug der USA wieder über eine eingeschüchterte Bevölkerung herrschen zu können. Der Massenmord von Najaf, der religiöse Ressentiments wecken und die Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufhetzen sollte, stellt eine neue Eskalationsstufe dar.

Man muss die Amerikaner nicht lieben, um in der Strategie des »Widerstands« eine größere Gefahr zu sehen als in der Präsenz der US-Truppen. Die wichtigsten politischen Organisationen halten an ihrer Strategie fest, sich im Regierungsrat an der Verwaltung zu beteiligen und mit friedlichen Mitteln auf ein Ende der Besatzung zu drängen. Für sie wie wohl auch für die Mehrheit der Irakis ist der Umgang mit den Besatzungsmächten ein taktisches Problem. Die entscheidende Frage ist, ob die Zukunft des Landes von der Bevölkerung oder von rechtsextremen Terroristen bestimmt wird.