Sleeper Cell

Meldung 3245, Hauptquartier

Die Alltagskultur in Wonder Valley sieht anders aus. Wenn am Morgen langsam die eine Hälfte der Sonne hinter dem Gebirgskamm hervorblinzelt, marschiert meist zur selben Zeit ein junger Mensch, die Haare fettig über den Schädel gestrichen, querfeldein über einen endlosen Wüstenweg. Er ist Extremkletterer und er weiß etwas über diese Welt. Als wir ihn einfach mal stoppen und danach fragen, sagt er:

»Meine Welt verwandelt Schmerz in Spaß. Kennt ihr dieses Gefühl?« – Nein. – »Wollt ihr die totale Freiheit?« Nein.

Er lebe hier draußen im Namen des Ich-Seins, der mit sich Einswerdung; sich selbst verwirklichen, sich sehen, hören, erleben, gespiegelt in der endlosen Landschaft. Der Typ ist für uns sofort erledigt. »Abenteuer ›Amerika‹ auf der Flucht erschossen«. So oder anders wird die Schlagzeile lauten.

Hunderttausende so genannte »grüne« Touristen besteigen jedes Jahr die John-Wayne-Felsen im Joshua Tree National Park; vielleicht der schönste und zugänglichste Kletterpark im Lande, wie das Magazin Traveller letztes Jahr begeistert verkündet hat.

Die Straße, auf der der junge Mann läuft, führt zum größten frei liegenden Stein der Welt: dem Giant Rock. Vor Jahren zerbrach der Giant Rock in zwei Teile. In den fünfziger Jahren baute sich der angeblich von Ufos entführte Air Force-Testpilot George Van Tassel einen Unterstand im Giant Rock, später zog er mit seiner Familie ein. Recherche zählt! Van Tassel baute später einige Meilen entfernt in der Ortschaft Landers eine »Integratron« genannte Energiemaschine, die ewige Jugend versprach. Heute ist der Ort bei kalifornischen Ravern populär .

Der junge Extremkletterer läuft ins Nirgendwo zu seiner Hütte im Nichts; eine von vielen, die hier in den zwanziger Jahren gebaut und über die leblose Landschaft verteilt wurden. Das Werk einer Utopie, die sich die Vorreiter von Adorno und Horkheimer erfüllten. Für jene ersten »Aussteiger« ging es um die noch heute aktuellen, postmodernen Fragen der Lebensgestaltung: Wie befreie ich mich aus der Umklammerung der Ideologie, aus den Großstädten, dem Konkurrenzkampf, aus der Metaphysik?

Die »Außerirdischen« suchten schon damals in der amerikanischen Wüste nach Selbstorganisation, Ethik der Selbsterfindung aus Widersprüchen heraus. Und sie haben sich eine der widersprüchlichsten Regionen der westlichen Welt ausgesucht. Joseph Goebbels war nie hier. Aber Ltd. Commander L. Ron Hubbard, Gründer der Science-Fiction-Sekte Scientology, lebte in den dreißiger Jahren viele Monate in einer kargen Hütte zwischen Wonder Valley und Joshua Tree. Gemeinsam mit dem Raketenpionier John Parsons, Gründer des Jet Propulsion Laboratory in Pasadena, studierte er die Landschaft, gemeinsam lauschten sie Prokofjews Violinkonzerten und übten okkulte Dramaturgien und Hexenkünste ein. Hier gruppierten sich in den fünfziger Jahren die Paten der New-Age-Subkultur von Südkalifornien. Ed Ruscha, einer der besseren Gegenwartskünstler Amerikas, entwarf in seinem Studio, im zehn Meilen entfernten Pioneertown, seine Nebelbilder. Der Hollywood-Mogul David Geffen erstand vergangenes Jahr ein riesiges Grundstück in der Ortschaft Yucca Valley und will sich dort vom Schweizer Architekten Frank Escher einen futuristischen Bungalow mit klärendem Blick in die Zukunft bauen lassen. Alles super super Magazinthemen, die ich hier weggebe. Herr Sorge vom Spiegel, bitte melden!

»Sleeper Cell« erscheint als anonymer Kolumnenroman.