Ein Kinderspiel

Ein Bericht von der Front des deutschen Jugendfußballs. von joachim frisch

Noch eine Stunde bis zum Anpfiff auf dem Fußballplatz in Hamburg-Lemsahl, einer etwas feineren Vorstadtgegend. Neun Zwerge, die hauptberuflich in die vierte, höchstens in die fünfte Klasse gehen, steigen aus drei indigoblauen Familienkutschen, holen ihre Adidas-Sporttaschen, in die sie locker selbst hineinpassen würden, aus den Kofferräumen und marschieren in Richtung Umkleidekabinen, alle im gleichen blau-schwarz-weißen Trainingsanzug. Es sind die Gegner aus dem Nachbarviertel Sasel.

Die Eltern der hoffnungsvollen Talente haben gut 50 Euro hingeblättert, damit die Kids »einheitlich« daherkommen und nicht wie »irgendwelche dahergelaufene Chaoten«. So hatte der Trainer beim Elternabend die Anschaffung der Uniformen begründet, die Eltern haben daraufhin mehr oder weniger zustimmend gemurmelt und die Börsen gezückt. Zu widersprechen hat sich keiner getraut. Es geht nämlich um den Teamgeist.

Derart uniform gekleidet fühlen sich die Kleinen wie die Großen, nämlich wie die Profis vom HSV oder Werder. Pauli ist ja mittlerweile extrem out in Hamburg, in den besseren Vierteln sieht man inzwischen mehr Pauli-Bettler- als Retter-T-Shirts. (Für Ahnungslose: Der FC St. Pauli hat Trikots, auf denen »Retter« steht, mit Aufpreis an seine Fans verkauft, damit der ehemalige Erstligist die Saison in der Dritten Liga finanzieren kann.)

Streng genommen ist man hier, auf dem Fußballplatz in Hamburg-Lemsahl, meilenweit vom Profifußball entfernt. Rein optisch ist das jedoch nicht zu erkennen: Sogar Trikotwerbung gibt’s, das »Autohaus Petschallies (VW)« sponsert die E-Jugend der Gäste, das wirtschaftliche Umfeld ist also intakt. Die Heimelf steht dem in nichts nach, ihre roten Trikots tragen den Schriftzug eines örtlichen Eiscafés.

Gespielt wird auf dem Siebenerfeld quer über den Platz auf Tore mit den Maßen fünf mal zwei Meter. Sechs Feldspieler und ein Torwart je Mannschaft sind erlaubt.

Beide Teams werden nach dem DFB-Prinzip doppelt gecoacht, was einfach zu erkennen ist, denn auch der Teamchef und der Cheftrainer stecken in Trainingsanzügen mit Sponsorenlogos.

Nur der Schiri trägt Zivil. Sekunden nach dem Anpfiff muss er aber auch schon wieder abpfeifen. Einige der spitzen roten Steinchen des Hartplatzes sind wie Scherben in das Knie eines Verteidigers eingedrungen, Trainer und Teamchef eilen herbei, einer trägt den hemmungslos heulenden Knaben vom Platz. Ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz ersetzt ihn. Nur zwei Minuten später holt sie einem gegnerischen Stürmer den Ball vom Fuß. Dessen Coach ist perplex: »Mensch Marco! Das ist ein Mä-dchänn!« schreit er mit einer Stimme, die unangenehm der eines Spießes auf dem Kasernenhof ähnelt, und stampft mit den Füßen auf, »du wirst doch an einem Mä-tchähänn vorbeikommen!« Auf der Gegenseite werden diese Äußerungen von den versammelten Müttern eher nicht gemocht. Empörte Aufschreie belegen das: »Was soll das denn! Proll! Rumpelstilz! Chauvischwein!«

12. Minute: Wieder rennen alle Spieler naturgemäß dem Ball hinterher, von zuvor abgesprochenen Feinheiten wie Position oder Taktik ist weit und breit nichts zu sehen. Die Trainer und Teamchefs leiden, tigern an der Außenlinie entlang, trampeln und toben. Ihre in Richtung Spielfeld plärrenden Feldwebelstimmen klingen zunehmend aggressiver. »Timooooohooo, nimm die Beine in die Hand!!!« »Nicht mit dem Kopf, Mahmut!« »Nach vorne, nach vorne, ihr Penner!« Ein schlingensiefsches Schauspiel, das.

Die Mütter der Gäste amüsieren sich köstlich über die Veitstänze der gegnerischen Trainer, doch als der Schiri gegen einen ihrer Jungs (oder wars das Mädchen? Egal!) pfeift, ist auch für sie der Spaß vorbei. »Du hast ja Tomaten auf den Augen!« »Schwuchtel!« Noch mehr regt sich ein Herr Ende dreißig mit Schnauzbart auf, ein Vater der Roten wohl: »Was haben die dir bezahlt, Schiri?« Die Kinder rennen, fallen, heulen nach Stürzen, heulen nach Toren der anderen, bohren zwischendurch geistesabwesend in ihren Nasen oder zur Abwechslung auch mal in den Ohren, lassen sich an der Außenlinie von irgendeinem Erwachsenen die Schnürsenkel wieder zubinden, spielen wie im Sandkasten mit den roten Steinchen, jubeln wie Elber oder Erik Meijer.

Ein Spieler der Blauen macht sich dem Anhang des roten Teams durch seine Körpergröße und vor allem durch ungehemmtes Toreschießen verdächtig. Dreimal ist er einfach samt Ball mit Riesenschritten übers halbe Feld an den Gegenspielern vorbeigelaufen und hat dann den Ball ins Tor geschoben. Dem Schnauzbart kommt das spanisch vor. »Der ist doch garantiert schon zwölf«, mutmaßt er, »die haben doch den Pass gefälscht«. Andere munkeln von Hormonspritzen.

Nach dem 4:1 kurz vor der Halbzeit – 25 Minuten dauert ein Durchgang in dieser Altersklasse – schreit ein Gästetrainer den Torwart an: »Mensch, da musst du doch draufgehen, auf den Sechser, Mensch Diego, hast du Beton an den Füßen?« Der Torwart heult daraufhin Rotz und Wasser, er will nun nicht mehr mitspielen. Auszeit, ein Auswechselspieler zieht die Torwarthandschuhe an und stellt sich mit Trainingsjacke ins Tor. Der Trainer redet noch mindestens zehn Minuten eindringlich auf den unglücklichen Keeper ein, »unkameradschaftlich« sei sein Verhalten, auch das Wort »Mimose« ist zu hören, die pädagogische Ansprache wird jedoch immer wieder durch laute Schluchzer und ein trotziges »Ich will aber nicht!« unterbrochen.

Vier Trainer, neun Mütter und sechs Väter kommentieren auch nach dem Anpfiff der zweiten Halbzeit gleichermaßen unverdrossen wie ununterbrochen das Spiel, nach einer weiteren Tirade, in der unter anderem das Wort »Wichser« fiel, verweist der Schiri den Schnauzbart des Spielfeldrandes. Das aber erweist sich als keine so richtig erfolgreiche Maßnahme, murrend und Beschimpfungen nuschelnd geht der Verbannte zunächst vier Schritte zurück, kurze Zeit später schlurft er wieder drei Schritte vor und steht wieder fast auf seinem angestammten Platz.

Am Ende gewinnen die Blauen 9:3, der Torwart der Roten ist nicht wieder ins Spiel zurückgekommen. Sein Vertreter war nicht glücklicher, zwei Bälle sind vor ihm aufgesprungen und hinter ihm ins Tor gefallen. Ihn aber hat der Trainer nicht beschimpft, wahrscheinlich, weil für ihn mildernde Umstände gelten. Der Junge ist ja schließlich im richtigen Fußballerleben kein Tormann. Er heult aber trotzdem.

Die Blauen dürfen mit ihren Trainern zu McDonald’s, die Big Macs werden aus der Mannschaftskasse bezahlt, also von den Eltern, die unter anderem für das Wiederauffüllen der Spardose ihrer Elf zuständig sind. Die Colas werden heute vom Teamchef spendiert, weil die Jungs »gut drauf waren« und »einer für den anderen gerannt« ist. Das war Teamgeist.