Auf dem Vormarsch

Der Streit um die EU-Verteidigungspolitik könnte die Beratungen über die gemeinsame Verfassung sprengen. von markus bickel

Der Nato-Oberkommandierende für Südeuropa ließ Zweifel gar nicht erst aufkommen. »Mir liegen keine Erkenntnisse vor, dass wir in der Lage wären, Sfor an die EU oder an irgendjemand anderes zu übergeben«, erklärte Gregory Johnson bei seiner Stippvisite in Sarajevo vor zwei Wochen. Seit Ende 1995 hat die Nato das Oberkommando über die Bosnien-Schutztruppe Sfor inne, und auch wenn die Stärke der Streitmacht von damals 60 000 auf heute etwas mehr als 10 000 Mann gesunken ist, steht die Kontrolle der Nato über die Südostflanke zurzeit offenbar nicht zur Disposition. »Jeder, der sich mit Geopolitik befasst und einen Blick auf die Sicherheitslage in der näheren Umgebung Europas wirft, wird verstehen, dass es südlich und östlich davon ein paar empfindliche Gegenden gibt«, stellte der US-Flottenadmiral unmissverständlich klar.

Von der Analyse her dürften ihm die französische Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie und ihr deutscher Kollege Peter Struck wahrscheinlich sogar Recht geben. Doch was die Aufnäher an den Uniformen der in Südosteuropa stationierten Soldaten anbelangt, gehen die Ansichten ziemlich auseinander. Anfang September unternahm das deutsch-französische Duo deshalb erneut den Versuch, die bereits auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen im Dezember vergangenen Jahres angekündigte Übernahme des Sfor-Oberkommandos voranzutreiben. Die Union, so Struck, solle ihre militärischen Vorbereitungen für den Führungswechsel im kommenden Jahr nun endlich ernsthaft angehen. Mitte 2004, sekundierte Alliot-Marie, werde es bereits so weit sein, dass die gesamte Truppe mit den dann 15 Sternen auf den Oberarmen aufmarschieren könne.

Waren es im Februar noch Frankreich und Großbritannien, die in einer gemeinsamen Initiative auf einen Wechsel an der Sfor-Spitze hinarbeiteten, so ist es kein Zufall, dass die Regierung Jean-Pierre Raffarins ein halbes Jahr später in Berlin um Hilfe beim Ausbau der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) bittet. Denn schon im April, als der belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt neben Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker und Frankreichs Präsident Jacques Chirac auch Bundeskanzler Gerhard Schröder zu einem seither als »Minigipfel« bezeichneten Treffen nach Brüssel lud, um die ESVP schneller voranzutreiben, schaute Tony Blair in die Röhre. Der Riss zwischen »altem« und »neuem« Europa vertiefte sich damals.

In Nato-Kreisen wird das alles andere als antimilitaristische Antikriegsbündnis seither als »Viererbande« bezeichnet, das wohl auch beim Treffen der EU-Verteidigungsminister Anfang Oktober in Italien, wo über die sicherheitspolitischen Kapitel der neuen EU-Verfassung beraten werden soll, Konflike hervorrufen wird. Denn nicht nur der Streit um die künftige Rolle der EU auf dem Balkan, sondern die gesamte Zukunft der gemeinsamen Militärpolitik der Union steht auf dem Spiel. Für Blair, so der britische Guardian Anfang des Monats, wäre die »rote Linie« überschritten, sollten die Irakkriegsgegner während der am 4. Oktober in Rom beginnenden Regierungskonferenz auf ihrer Forderung nach Aufnahme einer »Solidaritätsklausel« für Opfer bewaffneter Angriffe beharren.

Das aber scheint längst nicht mehr ausgeschlossen. Schließlich hatte Verhofstadt kurz nach Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Italiens Premierminister Silvio Berlusconi erneut auf Konfrontation gesetzt und die Differenzen zwischen Blair, Berlusconi und Spaniens Ministerpräsidenten José María Aznar auf der einen sowie Schröder und Chirac auf der anderen Seite vergrößert. Ein eigenes EU-Militärhauptquartier in Tervuren nahe Brüssel, so der Vorschlag Verhofstadts, sei der geeignete Weg, Europas Traum einer eigenständigen, unabhängig von der Nato und den USA operierenden Armee zu verwirklichen. Ende August legte der belgische Premier noch einen obendrauf: Schon nächstes Jahr könne das Hauptquartier bezogen werden, ließ er wissen.

Blair konterte den Vorschlag mit einem »Food for Thought« betitelten Papier, das die kontinentaleuropäischen Ambitionen zwar berücksichtigt, der Nato aber trotzdem das letzte Wort belässt. So soll im Hauptquartier des nordatlantischen Bündnisses nahe Brüssel eine eigene Abteilung eingerichtet werden, die ganz den EU-Militärstrategen überlassen bliebe. Weitere Kompromisse will Blair wohl nicht eingehen, da er mit seiner Forderung nach einer eng an die Nato angebundenen EU-Verteidigungspolitik auf die Unterstützung der Niederlande, Italiens, Spaniens und Dänemarks zählen kann und darüber hinaus auf Beistand aus den Beitrittsländern hofft.

Geoffrey van Orden, verteidigungspolitischer Sprecher der Blair bedrängenden britischen Konservativen im EU-Parlament, warnte allerdings vor einer rein taktisch motivierten Zustimmung der »Viererbande« zu dem Vorschlag Blairs: »Wir wären dann wahrscheinlich mit dem Schlechtesten aus beiden Welten konfrontiert – einem Trojanischen EU-Pferd innerhalb der Nato sowie erweiterten und verdoppelten EU-Strukturen außerhalb.« Rumsfeld hatte der EU zuvor ebenfalls empfohlen, sich eher um den Ausbau ihrer militärischen Kapazitäten als um die Errichtung neuer Hauptquartiere zu kümmern.

Angesichts der seit März in Mazedonien zum ersten Mal unter eigenem Kommando operierenden Eufor-Einheiten sowie der kurze Zeit später in den Kongo entsandten EU-Mission »Artemis« scheint die Einrichtung eines eigenen Hauptquartiers aus Sicht der EU allerdings nur logisch. Bereits kurz nach Ende des Kosovo-Krieges im Sommer 1999 hatten die Staats- und Regierungschefs der EU den Aufbau einer 60 000 Mann starken Schnellen Eingreiftruppe beschlossen, die eigentlich bis Ende dieses Jahres einsatzfähig sein sollte. Binnen 60 Tagen soll sie in jedes Krisengebiet der Welt verlegt werden und dort mindestens ein Jahr lang im Einsatz bleiben können.

Die EU-Operation »Concordia« in Mazedonien galt deshalb von Anfang an nur als Testfall für größere Aufgaben: Ihre 300 Mitglieder sind lediglich leicht bewaffnet, und sollte die Albanische Nationalarmee (AKSh) die mazedonischen Regierungstruppen eines Tages wirklich zu einem Krieg provozieren, stünden ohnehin die Nato-Truppen aus dem benachbarten Kosovo Gewehr bei Fuß. Abgesehen davon läuft das Eufor-Mandat Mitte Dezember aus.

Kommt am Ende also doch alles eine Nummer kleiner als von der »Viererbande« gewünscht? Gut möglich, zumindest auf dem Balkan. Paddy Ashdown jedenfalls, Sondergesandter der EU in Sarajevo, lässt daran keinen Zweifel: »Sollte Europa sich ohne das Engagement der Vereinigten Staaten in Bosnien betätigen, würde das in einem Desaster enden«, sagte der britische Ex-Offizier vorige Woche der Jungle World.