Geld oder Streben

Immer mehr Studierende in Berlin müssen für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen. Doch ihre Arbeitsbedingungen verschlechtern sich. von anke engelmann

Guten Tag! Sie sind doch bestimmt auch für den Naturschutz! Oder wollen Sie, dass unschuldige Tiere leiden?« Den Kopf schräg geneigt, klimpert die junge Frau mit den Wimpern und beschreibt mit der freien Hand einen Kreis, der den gesamten Alexanderplatz einschließt. Die andere Hand präsentiert die Broschüre des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Deutschland (BUND). In der Nähe schlendern noch mehr junge Menschen mit einem Lächeln auf dem Gesicht und Werbematerial in der Hand scheinbar müßig und beobachten die vorbeieilenden Passanten. Wer bummelt, wird sofort angesprochen und eingewickelt.

Es sind Studierende, die hier auf dem Alexanderplatz arbeiten; mit der Anwerbung von Abonnenten und neuen Mitgliedern verdienen sie sich ihren Lebensunterhalt. Zwei Drittel aller deutschen Studenten und Studentinnen im Erststudium sind heute erwerbstätig, insgesamt 20 Prozent arbeiten sowohl in der Vorlesungszeit als auch in den Semesterferien. Zu diesem Ergebnis gelangt eine Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes (DSW).

In Berlin mit seinen 17 Universitäten und Fachhochschulen waren im Wintersemester 2001 etwa 140 000 Studierende immatrikuliert. Der Anteil derer, die ihre Lebenshaltungskosten ausschließlich durch Arbeit bestreiten müssen, wächst seit Jahren kontinuierlich. Steigende Studienkosten, etwa wegen des Semestertickets und der erhöhten Rückmeldegebühren für Langzeitstudenten, zwingen immer mehr Studierende in prekäre Tätigkeiten.

Die Studenten stellen einen nicht unerheblichen Faktor auf dem Berliner Arbeitsmarkt dar. Ob Zeitungsverlage, soziale Dienste, das Baugewerbe, Reinigungsbetriebe oder Architektenbüros: viele Bereiche brächen ohne die Mitarbeit von Studierenden fast vollständig zusammen. Auch in der Stammkneipe um die Ecke kellnert ganz gewiss ein überqualifizierter Langzeitstudent, und der Weihnachtsmann studiert übers Jahr Politologie.

Doch die Gewerkschaften, die Studierendenvertretungen und die Jobvermittlungen an den Universitäten stimmen überein: Studierende werden mehr ausgebeutet als andere Lohnabhängige. Allerdings lassen sie sich auch leichter ausbeuten. Sie sind meist schnell bereit, im Schichtdienst zu arbeiten oder Überstunden zu leisten und stellen oft keine Ansprüche auf ein Urlaubsgeld. Studierende können problemlos entlassen werden, und auf dem Arbeitsmarkt ist der Konkurrenzdruck unter ihnen groß.

Das bestätigt auch Christian Kühbauch, der Bundesjugendsekretär des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Er beklagt das »katastrophale politische Bewusstsein« vieler Studierender. Die meisten wüssten nicht, dass ihnen die gleichen Rechte zustehen wie den »normalen« Beschäftigten. Deshalb forderten sie diese Rechte gar nicht erst ein. Sowohl der DGB als auch die Verdi-Jugend bemühen sich seit einiger Zeit, eine Interessenvertretung für arbeitende Studierende aufzubauen. Die Resonanz an den Hochschulen ist jedoch gering.

Und nur selten gelingt es studentischen Initiativen, sich direkt und gezielt gegen Unternehmer zur Wehr zu setzen. Die Fluktuation ist in den klassischen Studierendenjobs hoch, eine Organisierung der Beschäftigten schwierig. Immerhin gelang es im Jahr 2001 einer Berliner Callcenter-Initiative, vor Gericht die Einsetzung eines Betriebsrates bei der Hotline GmbH zu erstreiten. Die ursprünglich aktiven Studierenden waren, als das Urteil verkündet wurde, allerdings bereits entlassen.

In den rund 90 Callcentern Berlins arbeiten die meist studentischen Beschäftigten unter schlecht gesicherten Bedingungen. Betriebsräte stellen eine absolute Ausnahme dar. Dies ist auch an den Universitäten so. An den Berliner Hochschulen arbeiten die studentischen Hilfskräfte zwar nach Tarifvertrag, dafür jedoch teilen sich zwei, manchmal sogar vier »HiWis« eine volle Stelle. Das bringt immer einen geringen Verdienst und nicht selten jede Menge unbezahlter Überstunden. Einige Unternehmen reduzieren ihre Vollzeitkräfte mehr und mehr und decken die Zeiten mit hohem Arbeitsaufkommen mit den stets bereitstehenden arbeitswilligen Studierenden ab.

Und trotzdem ist das Stellenangebot seit einigen Jahren rückläufig. So führte die Einführung der Rentenversicherungspflicht für Studierende im Jahr 1996 zu einem großen Einbruch auf dem studentischen Arbeitsmarkt. Der höhere Verwaltungsaufwand machte sie für viele Unternehmen unattraktiv. Inzwischen stellen viele Betriebe die Studierenden nicht einmal mehr mit einem Arbeitsvertrag ein, sondern speisen sie stattdessen mit Honorarverträgen ab. Damit entfällt der Anspruch auf soziale Leistungen wie die Rentenversicherung, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder gar auf »Luxusgüter« wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld.

Bei der Arbeitsvermittlung Heinzelmännchen der Freien Universität Berlin, einer Einrichtung des Studentenwerkes, sind derzeit etwa 2 000 bis 3 000 Personen gemeldet, davon sind etwa 70 Prozent Ausländerinnen und Ausländer. Täglich kämen etwa 100 auf der Suche nach Arbeit in die Vermittlungsstelle, nur etwa 30 von ihnen könnten vermittelt werden, erläutert das Vorstandsmitglied Rene Heydeck. »Früher waren es täglich 300, die gekommen sind, und 300 Jobs, die vermittelt wurden. Viele unserer Jobs liegen im Niedriglohnbereich und erfordern keine großen Qualifikationen.«

Die andere große studentische Arbeitsvermittlerin in Berlin, die Tusma, zählt etwa 5 000 Studierende, die ihre Lohnsteuerkarte abgegeben haben. Die Tusma gehört zur studentischen Selbstverwaltung der Allgemeinen Studierendenausschüsse (Asten). Sie achtet auf einen gewissen sozialen Standard bei den Arbeitsbedingungen, vereinbart Mindestlöhne und setzt sich bei Schwierigkeiten mit den Unternehmen für die Studierenden ein.

Allerdings geht es der Tusma selbst derzeit nicht so gut. Sie befindet sich in einer schwierigen finanziellen Situation, da sie, anders als das Studentenwerk, weder öffentliche Gelder bekommt, noch Beiträge von allen Studierenden per Rückmeldegebühr erhebt. Ein großes Problem stelle eine gewisse »Konsumhaltung« dar, sagt Drakon Mavromatis, ein Vorstandsmitglied der Tusma. »Die Leute kommen hierher und wollen einen Job präsentiert bekommen. Doch die Tusma will nicht nur Dienstleistungen anbieten, sondern ein sozialpolitisches Projekt sein. In Zukunft wollen wir Menschen über die gesamte Studiendauer begleiten und gezielt Jobs und Praktika vermitteln, die den Übergang in das Berufsleben erleichtern.«

Auf dem Alexanderplatz haben Abo-Verkäufer der Berliner Zeitung die freundlichen Naturschützerinnen abgelöst. Er könne ganz gut von dem Verdienst leben, erzählt der Student, der für die Abos wirbt. Aber Probleme mit Unternehmern kenne er auch. Eine Agentur habe schon einmal seinen Lohn unterschlagen. Er zuckt die Schultern: »Da kann man nichts machen. Die finden schon einen Dreh!«