Europa lebt in Sarajevo

Wie SchriftstellerInnen aus 15 Ländern versuchten, »unser Europa« herbeizureden. von anne françoise weber, sarajevo

Schon in seiner Eröffnungsrede machte Jean-Marie Laclavetine deutlich, was er von Europa in Zukunft erhofft: Es möge »unter den Großmächten eine laute Stimme vernehmen lassen« – eine Stimme, die nach Möglichkeit der US-amerikanischen etwas entgegensetzen sollte. Warum aber waren der französische Schriftsteller und mit ihm die 4. Europäischen Literaturtage, denen er vorsitzt, mit diesem Wunsch ausgerechnet nach Sarajevo gekommen? Nicht nur, weil man sich hier rein geographisch zwischen Deutschland und Griechenland befinde, sondern auch, weil in Sarajevo »mindestens zweimal das Schicksal Europas entschieden wurde: 1914 und dann mit diesem Krieg in den neunziger Jahren, der die europäische Frage neu stellte«.

Während des Krieges und der über dreijährigen Belagerung der Stadt hatte der Franzose Francis Bueb das Kulturzentrum »André Malraux« gegründet, um kulturelle Kontakte zur Außenwelt zu erhalten. Nach dem Krieg wurde das Zentrum ausgebaut, seit 2000 organisiert es jährlich europäische Literaturtage in der bosnischen Hauptstadt.

Zeigen, dass in Sarajevo Europa entstehen kann, so formuliert Jean-Marie Laclavetine das Ziel des sechstägigen Kulturevents, dort, wo während des Bosnienkriegs Europa gestorben sei. Und so hatten die OrganisatorInnen die diesjährigen Literaturtage am letzten Septemberwochenende unter das Thema »Unser Europa« gestellt und dazu über 50 SchriftstellerInnen und ÜbersetzerInnen aus rund 15 Ländern eingeladen.

»Übersetzung als Sprache Europas«, »Den Krieg schreiben« oder eben »Unser Europa« waren die Veranstaltungen betitelt, bei denen so viele SchriftstellerInnen aufs Podium geladen waren, dass eine wirkliche Diskussion schon von vornherein ausgeschlossen war. Und so konnte jeder ungehindert seine Sicht der Dinge darstellen, ohne große Rücksicht auf Publikum oder Podium, nur ab und an von den SimultandolmetscherInnen unterbrochen, die bei zu schnellen Gedanken- oder Sprachsprüngen wütend an die Scheibe ihrer Übersetzungskabinen klopften. Zum Beispiel beim Vortrag des deutschen Autors Peter Schneider, auf Deutsch gehalten, »weil man mir gesagt hat, dass hier eine Leidenschaft ausgebrochen ist für das Deutsche«.

Nach einem Rundumschlag gegen verschiedene Intellektuelle, die sich gegen Nato-Interventionen in Bosnien oder Kosovo ausgesprochen hatten, präsentierte Schneider seine an Jürgen Habermas und Jacques Derrida angelehnte Vision der europäischen Integration: Europa könne nur vorankommen, wenn das aus den Gründungsmitgliedern Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten bestehende »Kerneuropa« eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickle und die anderen Staaten dann einlade mitzumachen, denn: »Es wird sowieso keinen Konsens von 25 Staaten geben«, so der gewendete 68er. Warum er dieses Plädoyer für eine Teilung der EU in Vordenker- und Mitläufer-Staaten ausgerechnet einem bosnischen Publikum präsentieren musste, blieb genauso ungeklärt wie die Frage, warum sich ein französisches AutorInnenteam berufen fühlte, den gleichen ZuhörerInnen zu erläutern, welche Arten von Gefangenenlagern es während des Krieges in Bosnien gegeben hatte – gerade so, als säßen sie vor einem unbedarften, aber höchst nachdenklich dreinschauenden Publikum in Berlin oder Paris.

Auch die Podiumsdiskussion »Den Krieg schreiben« offenbarte den Graben zwischen denen, die die Kriege im ehemaligen Jugoslawien erlebt und denen, die sie nur begutachtet hatten. Vielleicht war es gar keine dumme Idee gewesen, in letzter Minute das Podium zu teilen und zunächst die lokalen SchriftstellerInnen und dann erst die Zugereisten über das Thema debattieren zu lassen. Zu einem wirklichen Austausch wäre es vermutlich sowieso nicht gekommen, zu unterschiedlich waren die Erfahrungen mit dem Krieg. Für die einen war er zum existenziellen Bestandteil ihres literarischen Schaffens geworden, die anderen konnten an die Anekdoten aus dem besetzen Sarajevo gleich noch eine aus Ruanda oder Tschetschenien anfügen und mit der Zahl der Konflikte protzen, die sie als Schriftstellerin oder Journalist bereist und wieder hinter sich gelassen hatten.

Anekdotisch, lyrisch oder philosophisch zu werden, das blieb bei den Literaturtagen meist Privileg der WesteuropäerInnen. Von Europa als unvollendetem und stets weiterzuführenden Bauwerk, von der Hochzeit zwischen Faust und Helena von Troia oder von der Menschenwürde als ureuropäischer Idee war da die Rede. Immerhin, beim Vortrag zum zuletzt genannten Thema, organisiert von der französischen Zeitschrift Esprit, wandte dann doch einer, der englische Autor Tim Parks, ein, dass erstens nichts die Menschenwürde als europäische Idee auszeichne und zweitens die schönen Worte darüber völlig unberücksichtigt ließen, dass sich Europa durch Grenzen, eine äußerst suspekte Einwanderungspolitik und eigennütziges Verhalten gegenüber Ländern der Dritten Welt auszeichne. »Diese Gedanken ignorieren die Realitäten, mit denen sich europäische Politiker täglich auseinander setzen müssen«, warf er dem französischen Philosophen Abdennour Bidar vor, der aber noch gleich eins drauf setzte und allen rassistischen Realitäten zum Trotz behauptete, nur in Europa könne sich ein Muslim zuerst als Mensch fühlen, bevor er über seine Religionszugehörigkeit definiert werde.

Europa als nicht religiösen Raum halluzinierte auch Peter Schneider: Fundamentalismus gebe es »nicht nur im Islam, sondern auch in den USA und Israel«, erklärte er, um dann einen theatralischen Appell an die bosnischen ZuhörerInnen zu richten. Sie müssten alles tun, um das europäische Erbe von der Trennung zwischen Staat und Religion zu bewahren. Sollte es zu einer erneuten Vermischung von beidem kommen, »dann entfernen Sie sich vom Wichtigsten, was Europa uns selbst und der Welt zu bieten hat«, erklärte Schneider, dezent übergehend, dass einst religiös Verfolgte von Europa nach Amerika gezogen waren.

Daran, was die Europäische Union zumindest den BosnierInnen nicht bietet, erinnerte wesentlich pragmatischer der bosnische Autor Ivan Lovrenovic. »Wir sind von Europa durch unsere Pässe getrennt«, warf er denen an den Kopf, die sich so bemüht hatten, mit schönen Worten die Grenzen zu überwinden.

Unter den in Sarajevo vorgestellten Europa-Visionen war auch die von Albert Camus, wie er sie bereits während der Résistance im dritten seiner »Briefe an einen deutschen Freund« entwickelt hatte. Bei aller Vorsicht, mit der Zitate auf völlig andere Situationen zu übertragen sind, klingt eine Passage des Texts, den Camus damals an die Nazideutschen richtete, merkwürdig passend zu diesen von WesteuropäerInnen in Sarajevo initiierten Literaturtagen: »Ihr habt zu laut von Europa geredet. Wir sprachen nicht dieselbe Sprache. Unser Europa ist nicht das Eure. (…) Ihr sprecht von Europa, aber der Unterschied ist, dass Europa für Euch ein Besitz ist, während wir uns von ihm abhängig fühlen.«