Die Sache mit Cobain

Verspießerung kannn auch schön sein. Das zeigt Mark Lindquists Roman »Never Mind Nirvana«. von frank schäfer

Pete Tyler geht zum Geburtstag seines Neffen, seine Schwester empfängt ihn: »Als er eintritt, überreicht er ihr ein großes Paket, das in eine Lebensmitteltüte aus braunem Papier eingewickelt ist.

›Hübsch eingepackt‹, sagt sie.

›Es ist ein Ghettoblaster. CD und Kassette.‹

›Er ist vier.‹

›Ich habe eine Mudhoney-CD mit reingetan.‹ Er zieht seinen ausgefransten Shetland-Pullover aus und hängt ihn an den Kleiderständer. ›Every Good Boy Deserves Fudge. Ein Klassiker.‹«

Hier nimmt sich Mark Lindquist selbst auf die Schippe, macht er sich doch ein bisschen lustig über die eigene literarische Manier, die seinen neuen Roman »Never Mind Nirvana« – der dritte, nach beinahe zehnjähriger Schreibpause – vielleicht einmal zu oft aufrüschen soll. Er lässt den Plot immer wieder von Rocksongs begleiten, atmosphärisch andicken, vor allem aber auch kommentieren.

Das kann er ganz gut. Keine Songzeile, die hier zitiert wird, ist funktionslos, alles hat seinen Sinn, nur manchmal ist er eben ein wenig offensichtlich: »Pete wird von einer Mischung aus Müdigkeit und leichter Depression eingeholt, als er den Broadway hinunterfährt. Er dreht The Cure auf, ›In Between Days‹, Track 15 der Single-Collection: ›Yesterday I got so old I felt like I could die …‹«

Weil das Buch in Lindquists Heimatstadt Seattle spielt, weil sein Protagonist so eine Art Grunge-Stammvater ist, der mit seiner Band Morph Mitte der achtziger Jahre das Genre mitbegründet hat, weil es ständig regnet und der ständige Regen die habituelle Melancholie dieses einsamen Mannes nährt, kurzum, weil alles für Grunge spricht, wird hier eben meistens Grunge gehört.

Lindquist kennt sich gut aus in der Szene, zählt Bands auf, die man hierzulande wohl nicht mal dem Namen nach kennt (oder doch nur die totalen Addicts), aber man fragt sich manchmal, ob er dieses Wissen wirklich organisch erworben hat, sozialisationsbedingt sozusagen, oder angelesen – denn dieses Genre ist ja mittlerweile vom Sachbuchmarkt recht gut erschlossen.

Nun ist das eigentlich eine Frage, die sich bei der Lektüre gar nicht stellen sollte, aber in diesem Roman stellt sie sich eben doch. Da gibt es zum Beispiel einen anderthalbseitigen Dialog, in dem Tyler seine potenzielle Heiratskandidatin Esmé kennenlernt.

Wie sich etwas später zeigt, arbeitet sie beim Label Sub Pop, aber das hat weiter nichts zu sagen, dient nur zur Motivation ihrer Kennerschaft, die sie gleich im ersten Gespräch zeigen darf. Es ist eine Art Grunge-Quiz, das Pete mit ihr spielt, und es liest sich viel zu beflissen, unsouverän, als spielte es vor allem Lindquist für uns, um etwas zu beweisen: »›Eine Frage noch, diesmal alles oder nichts. Woher kommt das Wort Grunge?‹ ›Lester Bangs. Benutzte es, um Kiss zu beschreiben. Und dann benutztes es Mark Arm alias Mark McLaughlin, um Mr. Epp and the Calculations, seine eigene Band, zu beschreiben.‹« Seine eigene Band, aha!

Ein Freund von mir nennt so etwas gern »Celler Hengstparade«, und nichts anderes ist das hier! Es gibt ein paar solcher Brocken, aber dieser Prosastrom fließt andererseits zügig genug, dass man sie bald hinter sich gelassen hat.

Lindquist reiht kurze Szenen aneinander, dialogreiche und mit verspielten, mehrdeutigen Überschriften versehene Short Storys, die mitunter durchaus für sich allein stehen könnten, die sich aber doch zu einer geschlossenen Romanhandlung fügen. Und die Übersetzer Marc Kellogg und Thomas Seeliger haben gut daran getan, viele der Überschriften unangetastet zu lassen, um den Witz nicht zu zerstören. Das einseitige Kapitel »Sometimes in Winter« etwa beschreibt ja keine romantische Schlittenfahrt, sondern Ausschweifungen Tylers und seiner zweiten potenziellen Heiratskandidatin, der Stripperin Winter.

Tyler ist ein loser Geselle. Zunächst jedenfalls. Der Exrocker, der nach dem ersten Album die Karriere zugunsten eines Jura-Studiums drangegeben hat und sich nun als stellvertretender Staatsanwalt verdingt, prolongiert nach Feierabend sein früheres Leben: Sauftouren, Strip-Bars, One-Night-Stands, das alte »Besser verbrennen als verblassen«-Spiel.

Nur macht es ihm so recht keinen Spaß mehr, naja, Spaß schon, aber etwas fehlt ihm dennoch, immer öfter stürzt ihn das Alleinsein in Depressionen, die immer schwerer wegzusaufen sind. Was er braucht, so seine fixe Idee, ist eine Ehefrau, aber die Auswahl fällt nicht leicht bei dem riesigen Angebot. Am Ende hat er zwar immer noch nicht geheiratet, aber jetzt meint er es wenigstens ernst.

Die Generation X kommt langsam in die Jahre. Es fühlt sich noch etwas komisch an, man wehrt sich ein bisschen, aber doch schon eher halbherzig. Diese zweite Adoleszenzphase der Mittdreißiger hat Lindquist hier beschrieben. Und der Rock’n’Roll, der damals die Herzfrequenz vorgab, unmittelbar mit ihrem Leben verbunden war, wächst nicht mit, wird auf einmal zur bloßen nostalgischen Reminiszenz.

Die Musik ist hier also nicht nur hübsche Staffage, atmosphärische Beigabe, sie umspielt zugleich das Thema des Romans. Lindquist benutzt sie als Chiffre für das, was Tyler hinter sich zu lassen hat, um erwachsen zu werden, einen unwiederbringlichen Abschnitt der eigenen Biographie, der vielleicht niemals so schön war wie jetzt in der Erinnerung. Das ist mutig, denn der Autor lässt die Rock’n’Roll-Ideale, den Alles-oder-nichts-Lebensstil fahren für so etwas Uncooles wie Verantwortung, Moral, ja sogar Reue – bürgerliche Tugenden also.

Andererseits ist das schon seit einiger Zeit Mainstream in den großen Feuilletons, auch jenseits des Atlantiks, die nicht erst seit 09/11 unablässig von der Neuen Ernsthaftigkeit schreiben. Und man fragt sich eigentlich die ganze Zeit: Will man die überhaupt?

Also auch wenn Lindquist hier ein bisschen argumentiert wie die jüngste Fernsehwerbung für Bausparen bei der LBS, er schildert Petes Leiden an sich selbst ebenso tiefenscharf wie warmherzig, so überzeugend, dass man seine allmähliche Verspießerung mit Anteilnahme verfolgt und sogar deren Notwendigkeit einsieht. Der Mann hat einfach Angst, allein zu sterben!

Im Kleinen wird der Grundkonflikt dann nochmal gespiegelt in der bekannten Opposition Nirvana versus Pearl Jam. Auch hier gehen die Punkte eindeutig an letztere: »›Eddie Vedder hat mehr Sexappeal als Kurt Cobain‹, erklärt Esmé. ›Vor allem, weil er noch am Leben ist.‹« Und Pete hat seine Lektion gut gelernt.

Knapp hundert Seiten später zieht er noch einmal mit einem Kollegen lustlos um die Häuser, und als seine Begleiterin viel über die »künstlerische Integrität« und »unglaubliche Reinheit« Cobains zu salbadern weiß, gibt es Streit. »›Aber die Sache mit Kurt‹, fährt Helen fort, ›ist doch …‹ ›Die Sache mit Kurt Cobain‹, sagt Pete, ›ist, dass er tot ist.‹«

Und so ist denn auch der wortspielerische Titel des Buches zu verstehen – als Warnung. Die Tendenz dieses Entwicklungsromans mag einem vielleicht nicht gefallen, großartig ist er trotzdem.

Mark Lindquist: Never Mind Nirvana. Aus dem Amerikanischen von Marc Kellogg und Thomas Seeliger. German Publishing AG, Braunschweig 2003. 280 S., 11,80 Euro