Mutig in Mutlangen

Vor 20 Jahren veranstaltete die Friedensbewegung eine große Aktionswoche gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen. von jan süselbeck

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ist ein Mann mit Prinzipien. Schon im März 1981 kritisierte er die amerikanische Kriegskunst. Damals empörte er sich in der Zeitschrift konkret über die Bemerkung des US-Außenministers Alexander Haig, es gebe wichtigere Dinge, »als im Frieden zu leben«. Schröder kommentierte scharf: »Der Satz, in praktische Politik umgesetzt, garantiert die Freiheit von Ameisen und Molchen, die einen Atomkrieg überlebt haben. Den Menschen in Europa aber bliebe kaum eine Chance.«

Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, eine der Galionsfiguren der Friedensbewegung, beschrieb die Sachlage 1983 so: »Ein befreundeter Physiker verblüffte mich mit der Frage, ich möge schätzen, wie groß umgerechnet in Dynamit etwa die Sprengkraft sei, die heute schon auf jeden Kopf der Weltbevölkerung entfalle, wenn man die Energie aller Sprengköpfe zusammenrechne. Meine Vermutung lag bei einigen Kilogramm. Der Physiker belehrte mich, der aktuellsten Studie zufolge seien es 15 Tonnen. Ich war entsetzt.«

Nach dem so genannten Nato-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 wollten die USA in Europa neue Atomwaffen vom Typ Pershing II und Cruise Missiles stationieren. Die Aufrüstung sollte es nach US-amerikanischer Sicht ermöglichen, mit dem Ostblock besser über die Abrüstung verhandeln zu können. Die sozialdemokratische Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt stimmte der Formel zu, nachdem Schmidt selbst 1977 in einem Vortrag die angebliche Raketenlücke entdeckt hatte.

Im Oktober 1980 verfasste dann eine Gruppe um den ehemaligen Bundeswehrgeneral Gert Bastian und die grüne Politikerin Petra Kelly den Krefelder Appell, der in den folgenden Jahren von Millionen Bundesbürgern unterschrieben wurde. Das Papier forderte Schmidt auf, »eine Aufrüstung Mitteleuropas zur nuklearen Waffenplattform der USA« nicht zuzulassen.

Doch Schmidt blieb gar nicht an der Regierung, Helmut Kohl (CDU) begann ab 1982 mit der Nachrüstung, der die Regierung Schmidt noch zugestimmt hatte. Nach einer Infas-Umfrage vom Dezember 1982 waren inzwischen 69 Prozent der Bevölkerung, auch 53 Prozent der CDU-Wähler, gegen die Stationierung der Waffen. 1981 hatten in Bonn 300 000, im Jahr 1982 bereits 500 000 Menschen gegen die Nachrüstung demonstriert, und im Sommer und Herbst 1983 kam es deshalb in der ganzen Republik zu Massendemonstrationen mit mehr als einer Million Teilnehmern.

So bildeten etwa am 22. Oktober 1983 250 000 Personen zwischen der europäischen Kommandozentrale der US-Streitkräfte, Eucom, in Stuttgart und dem Standort für Pershing II-Raketen in Neu-Ulm eine Menschenkette in der Länge von 108 Kilometern. Menschenteppiche und -sterne waren plötzlich große Mode, genauso wie Fackel- und Klagezüge aller Art. Überall hielt man Mahnwachen und Schweigestunden ab, umarmte Gebäude und umzingelte militärische Einrichtungen mit friedlichen Sitzstreiks. Drei Millionen Bundesbürger beteiligten sich 1983 an solchen Aktionen im ganzen Land.

In Mutlangen, wo am 22. November die ersten Pershing-Raketen stationiert werden sollten, wurde im Sommer 1983 ein internationales Friedenscamp organisiert. Im September blockierten dort sitzende Demonstranten für drei Tage die Zufahrt zum Militärdepot. Vom 15. bis zum 23. Oktober gab es eine Aktionswoche mit Gottesdiensten, Lesungen und Musikdarbietungen direkt am Depotzaun.

Zu den regelmäßigen Teilnehmern der Mutlanger »Prominentenblockade« zählte damals auch das Ehepaar Walter und Inge Jens. Inge Jens erzählt der Jungle World, es sei ihnen damals eine »Herzensangelegenheit« gewesen, gegen den sich anbahnenden »unheilvollen Unsinn« zu protestieren. Als »arrivierte« Demonstranten seien sie zwar kein Risiko eingegangen. Doch Referendaren und Vikaren drohten große berufliche Schwierigkeiten, wenn sie aktenkundig geworden seien.

Die Kommunikation zwischen Polizisten und Blockierern sei in Mutlangen jedoch in der Regel freundlich gewesen. Manche Prominente hätten sich von den vorsichtig agierenden US-amerikanischen Soldaten und Polizisten wegtragen lassen, um sich später »eine Bühne zu schaffen vor Gericht«, sagt Jens. »Wehret den Anfängen! Das hatte unsere Generation nach 1945 verinnerlicht. Wenn die Rüstung erst etabliert ist, ist es zu spät!«

1983 war auch durch die Angst vor dem »Orwell-Jahr« 1984 geprägt. Viele fürchteten nicht nur, dass der deutsche Staat ein Überwachungsstaat werden könnte, sondern dass schlicht der Weltuntergang eintrete. Der Friedensforscher Egbert John schrieb, selbst wenn 1984 der sichere »nukleare Holocaust« bevorstehe, solle man »ruhig und gelassen frische, grüne Bäume inmitten von Raketenwäldern« pflanzen.

Den Begriff »Holocaust« im Zusammenhang mit der atomaren Bedrohung zu verwenden, kam in Mode. Mit der Aussage, man protestiere nun gerade als Deutscher, der aus der Geschichte gelernt habe, friedlich gegen Waffen, deren Vernichtungskraft Auschwitz als bloße Ouvertüre erscheinen lasse, wurde die deutsche Vergangenheit relativiert.

In der Anti-Atom- und der Friedensbewegung fanden Antiimperialisten, Ökologen, Feministinnen und christliche Pazifisten friedlich zusammen. Einerseits führte die damit einhergehende Gründung der grünen Partei zu einem Aufbruch des öden Parteiensystems der Bundesrepublik. Andererseits galten gerade hier Begriffe wie Volk, Heimat und Vaterland bald nicht mehr unbedingt nur als reaktionär.

Einer der Stars der Friedensbewegung war der frühere Oberstleutnant und spätere Bundestagsabgeordnete der Grünen, Alfred Mechtersheimer. Auf den Podien der großen Friedensdemonstrationen warb er für den »Aufstand gegen die Besatzungsmächte«. Seit den neunziger Jahren versteht er sich als »Theoretiker und Praktiker des nationalen Befreiungskampfes für ein neues Deutschland« und leitet die extrem rechte »Deutschlandbewegung«.

Dass die Friedensbewegung der Bonner Republik nicht nur zur Politisierung einer ganzen Generation führte, sondern im Nachhinein auch als ein wichtiger Schritt zu einer »normalisierten« Berliner Republik interpretiert werden kann, bewies Antje Vollmer (Grüne) Jahre später. Als stellvertretende Präsidentin des Bundestages erklärte sie am 1. Juli 1999 in ihrer Rede zum Abschied aus Bonn stolz: »Willy Brandt, knieend vor dem Warschauer Getto, das gehört zu den großen wichtigen Bildern dieses Jahrhunderts ebenso wie das von Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl, tapfer die Nationalhymne singend am Tag, als die Mauer fiel. Dazu gehören auch Petra Kelly und Heinrich Böll in Mutlangen. Die Erinnerung daran wird bleiben.«