Kapitalismus ist grausam

Der Abbau des Sozialstaats geschieht im Dienste des Kapitals und nationaler Machtansprüche. Rot-Grün ist am besten geeignet, ihn durchzusetzen. von rainer trampert

Während des Films »Das Wunder von Bern« hat der Kanzler dreimal geweint, weil der Spätheimkehrer und sein Sohn nichts zu beißen hatten, aber rührend stolz waren auf Boss Rahn und den deutschen Sieg. Am nächsten Tag hat er gelacht. Die Kanzlermehrheit stand für die Rückkehr zur Privatisierung der Risiken im Kapitalismus. Ein Bekenntnis zum gesunden, leistungsstarken Untertan, der für sich sorgen kann, und zur reinen Marktwirtschaft, also zur Übertragung der darwinistischen Naturordnung auf menschliche Gesellschaften.

Das Soziale musste dem Markt erst abgetrotzt werden. Wird dem Kapitalismus nichts mehr abgerungen, funktioniert er unabgefedert. Dann kassiert er schnell ein, was frühere Generationen mühsam erkämpft haben. Das meinte 1993 der damalige Präsident des BDI, Tyll Necker, als er sagte: »Wir müssen die Krise jetzt nutzen, denn jetzt sind die Menschen reif.« Helmut Kohl versprach im selben Jahr, er werde durch eisernes Sparen die Leistungskraft Deutschlands steigern. Er ist gescheitert.

Rot-Grün wird nicht scheitern, selbst wenn beide Parteien zusammen auf 30 Prozent rutschen. Warum? Zunächst aus Staatsräson. Es sieht ungerecht aus, wenn der Spitzensteuersatz der Reichen seit 1998 von 53 auf bald 42 Prozent sinkt. Aber der Staat ist nicht zuständig für Gerechtigkeit. Ein Student der Politikwissenschaften, der heute mit einer Arbeit über Staatstheorie einen Professor begeistern will, wird viel Fantasie aufbringen müssen, denn das Ergebnis müsste lauten: Der Staat ist der Reparaturbetrieb des Kapitalismus, der darauf spekuliert, dass für ihn etwas abfallen möge, sobald seine Maßnahmen hoffentlich Wachstum und Profite wieder in Gang gebracht haben.

Wenn Franz Müntefering sagt: »Wir müssen jetzt tun, was richtig ist für das Land«, klingt das ein wenig nach Gustav Noske, der seinerzeit die Beseitigung vieler Kommunisten damit begründete, dass einer den Bluthund spielen müsse.

Eine Frau aus der Gruppe der sechs SPD-Opponenten antwortete auf die Frage, ob die SPD vor einem neuen »Godesberg« stehe und ob die Entwicklung ihrer Partei sie überrasche: »Eigentlich nicht.« Sie sei wegen Willy Brandt in die Partei eingetreten und schon der habe betont, zuerst komme das Vaterland, dann die Partei und an dritter Stelle das Individuum. Als die SPD in Bad Godesberg den Sozialismus aus ihrem Programm strich, passte sie das Papier nur der Realität an. Sie war längst eine vaterländische Partei geworden, die für das versicherte Leben im Kapitalismus eintrat. Erst der Abschied von der Versicherung markiert den Abschied von der historischen Sozialdemokratie.

Rot-Grün ist vor allem besser geeignet, die Veränderungen durchzusetzen, weil beide Parteien, man mag es kaum glauben, noch immer Potenziale befrieden, die sich bei Stoiber die Freiheit zum Protestieren erlauben würden. Wenn Hans-Christian Ströbele, der Mann für das vergrübelte Ja zu allem, was getan werden muss, sagt: »Wir sehen, dass erhebliche Belastungen auf die Bürgerinnen und Bürger zukommen, aber wir konnten die schlimmsten Grausamkeiten verhindern.« Dann bekennt er sich zu seinen Grausamkeiten. Wer den Nationalsozialismus in seiner Geschichte hat, wird stets auf etwas Schlimmeres verweisen können.

In der FDP jammert man darüber, dass die Partei sich kaum noch bemerkbar macht. Das liegt nicht an Guido Westerwelle, sondern daran, dass alle Parteien und die Öffentlichkeit FDP sind.

Warum muss Deutschland saniert werden? Das Grausame am Kapitalismus ist seine laufende Regeneration. Wenn in den Zentren das Anwachsen des Kapitalblocks in Relation zur lebendigen Arbeit den von Karl Marx erkannten Fall der Profitrate zur Folge hat, dann läuft die Sanierung über die Wiederherstellung einer in der Weltkonkurrenz akzeptierten Profithöhe.

Erstens geschieht das über die Expansion. Aber China und der Raub fremder Wertmasse über den Außenhandel kann nicht alles kompensieren. In Deutschland wird die Profitrate, der einzige Wachstumsmotor, mehrfach geschwächt. Da ist der Sanierungsfall DDR. Solange die nationale Moral die Leute im Osten am Leben halten will, müssen aus den produktiven Zonen Werte abgeschöpft werden.

Zweitens bindet der angewachsene Staatssektor Werte, die dem Profitsektor verloren gehen. Drittens sinkt die Profitmasse durch den Wert, der an Rentner, Kranke und Arbeitslose verteilt wird. Da diese Gruppen keine Werte schaffen, sondern nur Werte verzehren, stellen sie für das System ein großes Ärgernis dar.

Der Kapitalismus widmet sich in den Zentren seiner Opfer, um die Operationsbasis zu befrieden. Er ist aber bestrebt, sie so preisgünstig wie möglich abzuspeisen. So steigert das in Deutschland ansässige Kapital den Gesamtprofit, verbessert seine Weltmachtambitionen und hält die Wirkung des gesellschaftlichen Erziehungsmodells am Leben: die Beschäftigten durch die Armut der nicht Beschäftigten zu motivieren.

Die Bereitschaft, sich jeden Tag vom Wecker wecken zu lassen und Beleidigungen der Vorgesetzten runterzuschlucken, wäre in Mitleidenschaft gezogen, wenn es den Arbeitslosen sichtbar gut ginge. Der Hass auf das eigene Arbeitsleben entlädt sich in Sudel-Talks, in denen Beschäftigte kurz davor sind, so genannte Sozialschmarotzer zu lynchen.

Für das System läge die profitabelste Lösung im Tod aller Rentner, Arbeitslosen und Kranken, die nicht mehr funktionstüchtig zu machen sind. Viele Menschen sind heute gelähmt, weil das versicherte Leben und die Konfiszierung ihres Denkens erschüttert wird durch die Ahnung, dass ihr Tod die Lohnnebenkosten am nachhaltigsten senken würde. Sie wissen nicht, wo ihnen der Kopf steht. 71 Prozent kritisieren, dass die Agenda die Interessen der kleinen Leute vernachlässigt, etwa genauso viele begrüßen die Kürzung der Sozialleistungen.

Das Bewusstsein ist schicksalhaft eingewoben, durch die Reproduktion im Alltag genauso wie durch Ideologie. Den Köpfen wird allerhand angetan. Erst suggerierte der Sieg des Marktes über den »Osten« dem Wuppertaler, in einem guten Kaufhaus zu leben. Dann wurde das 20. Jahrhundert von links bis postmodern als Gewaltverhältnis der Moderne verworfen, womit die Erinnerungen an Auschwitz und an den Befreiungsgedanken der Revolution ausgelöscht wurden. Soziale Befreiung ist zum Relikt eines falschen Menschheitsbildes vergangener Epochen verkommen.

Damit kam das Böse nur noch von außen. »Barbaren« oder »Amerika« oder die Fatalisierung des Globalen, das den Kapitalismus wieder in den schaffenden guten und den raffenden bösen teilt. Fremde Bösewichte machen die Nation oder das europäische Erbe schöner und schmieden die nationale Schicksalsgemeinschaft, die sich solcher Einflüsse zu erwehren habe.

Heute sind die Köpfe reif – bis zur Komik. In nur 18 Monaten waren auf dem Kapitalmarkt 600 Milliarden Mark verschwunden, da sagte mir ein Bekannter, wenn er seine Rentenabzüge privat hätte anlegen dürfen, hätte er im Alter mehr. Mag dem Gewerkschafter der Betriebsfrieden noch so sehr am Herzen liegen, er wird von der Öffentlichkeit, die von Frau Christiansen und ihren Gästen repräsentiert wird, als vergreister Trottel diffamiert, weil er noch immer wie der Versicherungsvertreter daherkommt.

Der moderne Mensch ist der sportive Jugendliche, der sich darüber beklagt, dass die Alten ihn ausbeuten. Eine Aussage, mit der er sich vehement für seine eigene Armut im Alter einsetzt. Die entscheidende Frage bleibt, ob die Menschen das, was mit ihnen geschieht, weiter als Schicksal hinnehmen oder wieder als Kapitalismus und deutschen Machtanspruch zu erkennen vermögen.