Kollaterale Spätfolgen

In Bonn steht die Bundesrepublik Deutschland vor Gericht. Es geht um Kriegsverbrechen in Jugoslawien. von frank brendle

Nicht jeder Treffer ist auch ein Erfolg. Die Abschüsse der Nato-Bomber vom 30. und 31. Mai 1999 fasste die Welt damals folgendermaßen zusammen: »Binnen 18 Stunden trafen Nato-Bomben eine Brücke voller Zivilisten, ein Sanatorium und einen Journalistenkonvoi.«

Dergleichen kam während des Jugoslawien-Krieges häufiger vor und galt dem Sprecher der Nato, Jamie Shea, als der Preis, den »der Kampf gegen das Böse« fordere. Schließlich musste ein »Jahrhundertverbrechen« (Rudolf Scharping) verhindert werden. Bekanntlich soll damals im Kosovo der blanke Faschismus geherrscht haben. »Konzentrationslager« hätten existiert und Massaker seien verübt worden; von einem Völkermord an der albanischen Bevölkerungsmehrheit in der serbischen Provinz war die Rede. Diese Produkte der psychologischen Kriegsführung hatten zwar nicht länger Bestand als die Beweise für die Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins, beförderten aber entscheidend die Mobilisierung für die erste Kriegsteilnahme Deutschlands seit 1945.

Die KriegerInnen im Bundeskabinett rechneten damals vermutlich nicht damit, für ihre Verdienste im Felde vor Gericht gezerrt zu werden. Alle Strafanzeigen, die Friedensgruppen seinerzeit wegen der Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges gestellt hatten, waren vom Generalbundesanwalt abgewiesen worden. Der Krieg sei eine Bündnissache der Nato, diene der Verteidigung der Menschenrechte und sei also nicht verboten.

Dass es seit dem 15. Oktober doch einen Prozess gegen die BRD gibt, ist der Beharrlichkeit einer serbischen KlägerInnengruppe und ihrer deutschen UnterstützerInnen zu verdanken. 35 EinwohnerInnen des Städtchens Varvarin fordern in einem Zivilverfahren vor dem Landgericht Bonn Schadensersatz. Zwei Kampfbomber der Nato hatten damals in einem ersten Angriff die Brücke in Varvarin zerstört und in einem zweiten Angriff in die Menge hineingefeuert, die sich um die Opfer kümmern wollte. Der Angriff kostete zehn Menschen das Leben, mindestens 17 wurden schwer verletzt.

Das erste Gerichtsverfahren gegen die Bundesrepublik, in dem nicht die Verbrechen ihrer Vorgängerregime, sondern ihre eigenen zur Debatte stehen, stellt in mehrfacher Hinsicht einen Musterprozess dar.

Eindeutig ist nur eines: Ein militärisches Ziel im Sinne des Völkerrechts gab es in Varvarin nicht. Die Autobahnbrücke, die Jamie Shea als »legitimes militärisches Ziel« bezeichnete, muss die Nato herbeiphantasiert haben. Varvarin hat keinen Autobahnanschluss. Die Brücke, die über die Morava führte, stammte aus dem Jahr 1924, war gerade viereinhalb Meter breit und mit maximal zwölf Tonnen belastbar. Deswegen konnte die Brücke während des ganzen Krieges nicht vom Militär benutzt werden.

Zudem befand sich in der ganzen Stadt kein Militär, die Staatsmacht wurde von drei Gendarmen repräsentiert. Varvarin ist ein Provinznest, das als so friedlich galt, dass mehrere Familien aus Belgrad dorthin flüchteten, um sich in Sicherheit zu bringen. Der Angriff erfolgte zum Zeitpunkt des orthodoxen Dreifaltigkeitsfestes, an einem Sonntag, der zugleich Markttag war. Das Stadtzentrum war voller Menschen, ebenso die Brücke.

Der Hamburger Rechtsprofessor Norman Paech nannte den Angriff »eine ganz eindeutige Verletzung des humanitären Völkerrechts«, die Verharmlosung als Kollateralschaden »eine Maskierung von Verbrechen«. Für eine Verurteilung reicht das allerdings nicht. Im Zivilverfahren müssen die Kläger zwei juristische Hürden überwinden. Zum einen wird geprüft, ob Individuen überhaupt klageberechtigt sind, und zum anderen, ob die BRD für den Angriff verantwortlich gemacht werden kann.

Bisher sind Klagen von Einzelpersonen, die Opfer einer Kriegshandlung wurden, stets gescheitert. Erst im Sommer dieses Jahres verwarf der Bundesgerichtshof die Entschädigungsklage von GriechInnen aus dem Dörfchen Distomo, das 1944 von der SS verwüstet worden war. Der BGH bezog sich dabei auf den Stand des Völkerrechts zum »Tatzeitpunkt«.

Die Hamburger Anwaltskanzlei, welche die serbischen KlägerInnen vertritt, argumentiert, das Völkerrecht habe sich seither entscheidend weiter entwickelt. Sie leitet dies unter anderem aus der Praxis des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes her, der schon des Öfteren Staaten dazu verurteilte, Opfern von Menschenrechtsverletzungen Entschädigungen zu zahlen. Entsprechend müssten auch Individuen, die Opfer von Kriegsverbrechen wurden, ein Klagerecht gegen den Verursacher haben.

Schließt sich das Landgericht dieser Meinung an, könnte eine Verurteilung wegen Verstößen gegen das 1977 abgeschlossene Erste Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen erfolgen. Um den Schutz der Zivilbevölkerung im Krieg geht es in jenem Dokument, an das sich im Ernstfall niemand hält. »Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Personen dürfen das Ziel von Angriffen sein«, heißt es darin. Ein Angreifer müsse »alles praktisch Mögliche tun, um sicherzugehen, dass die Angriffsziele weder Zivilpersonen noch zivile Objekte sind«. Im Falle von Varvarin wurde über diese Regelungen offenbar hinweggesehen.

Der Bundesrepublik die Schuld an dem Angriff nachzuweisen, ist auch nicht leicht. Deutsche Bomber waren am Angriff auf Varvarin nicht beteiligt. Die Anwältin Gül Pinar behilft sich hier mit einer Analogie aus dem Zivilrecht, der so genannten gesamtschuldnerischen Haftung. Weil sowohl der Krieg als solcher als auch jeder einzelne Angriff von den Nato-Staaten gemeinsam beschlossen wurden, seien auch die Folgen jedem einzelnen Staat zurechenbar. Auch für diese juristische Argumentation gibt es noch keinen Präzedenzfall. Dass sich die Kläger ausgerechnet die BRD ausgesucht haben, hat vor allem finanzielle und organisatorische Gründe.

Bei all dem spielt die Bundesregierung die verfolgte Unschuld. »Es wird nicht behauptet werden können, dass die Bundesrepublik Deutschland eine vermeidbare Beeinträchtigung der Zivilbevölkerung billigend in Kauf genommen hätte«, sagten ihre Anwälte vor dem Prozess. Es folgte der Hinweis, dass es »nur in 0,4 bis 0,9 Prozent der Einsatzfälle zu zivilen Opfern« gekommen sei. Na dann.

Die Bundesregierung bestreitet nicht nur, für die Aktionen ihrer Bündnispartner verantwortlich zu sein, sie behauptet auch, gar nicht gewusst zu haben, dass an jenem Tag Varvarin auf der Abschussliste stand. Das steht im Gegensatz zu allen offiziellen Äußerungen während des Krieges. »In der Zielauswahl und der Frage, welche Ziele überhaupt angegriffen werden durften, mussten die Beteiligten vorher übereinstimmen«, erklärte der deutsche Nato-General Walter Jertz nach dem Krieg im Focus.

Im Verteidigungsministerium gibt man sich heute mehr als bedeckt. Das Vorgehen der Nato wird von einer Mitarbeiterin, die lieber ohne Namen bleiben will, anders dargestellt: Die Angriffsziele hätten diejenigen, die überhaupt für den Einsatz in Frage gekommen seien, unter sich ausgemacht. Ob das bedeute, dass der deutsche Verbindungsoffizier bei der Nato gar nicht immer wusste, wo bombardiert werden sollte? Nach mehreren ausweichenden Antworten und Nachfragen heißt es schließlich: »Ich bringe mich in Teufels Küche, rufen Sie bitte bei der Nato an.« Die ist leider auch nicht auskunftsfreudig, trotz zahlreicher Anfragen hat sie bis heute nicht einmal mitgeteilt, zu welcher Armee die Bomber über Varvarin gehörten.

Ein Erfolg der Klage wäre revolutionär. Wenn die BRD tatsächlich für jedes Verbrechen, das die Bundeswehr oder ihre Bündnispartner im Rahmen der zahlreichen Einsätze begehen, Schadenersatz leisten müsste, würden Kriege rasch zu teuer. Die Staatsräson erfordert daher, die Klage abzuweisen. Am 10. Dezember soll das Urteil verkündet werden.