Les Enfants Terribles

Zwei Schülerinnen provozieren eine erneute Kopftuch-Debatte in Frankreich. von bernhard schmid

Es ist einer der ersten kalten Nachmittage in diesem Herbst. Seit jenem Dienstag vorletzter Woche ist sie plötzlich wieder da, die berühmte »Kopftuch-Debatte«, die in den letzten 15 Jahren in Frankreich für viel Aufregung gesorgt hat. Nie war sie wirklich ganz verschwunden, aber in den letzten Jahren schienen die öffentlichen Kontrahenten ein wenig ermüdet.

An jenem Nachmittag stehen etwa 80 bis 100 Personen vor der Oberschule Henri Vallon in der Pariser Vorstadt Aubervilliers herum. Die Schule ist der Schauplatz eines neuen Streits um das Kopftuch in Frankreich. Ende September erhielten zwei Schwestern, die 18jährige Lila und die 16jährige Alma Lévy, einen zunächst befristeten Schulverweis, weil sie ihre Kopftücher auch während des Unterrichts nicht ablegen wollten.

Nun stehen die Gegner der Disziplinarmaßnahme in der Herbstkälte herum. Vor allem linke Gruppen haben sich eingefunden, auch wenn in der französischen Linken in diesen Tagen und zu diesem Thema keinerlei Einigkeit herrscht. Da sind die unermüdlichen Aktivisten von »Speb«. Das Kürzel steht für Socialisme par en bas (Sozialismus von unten), eine kleine Gruppe, die ungefähr dem deutschen Linksruck entspricht. Da sind aber auch Mitglieder der Jeunesse Communiste Révolutionnaire (JCR), einer Jugendorganisation der trotzkistischen Linken, in der unterschiedliche Positionen vertreten werden.

Man sei »gegen alle Religionen, da diese uns dazu bringen wollen, die Welt so hinzunehmen, wie sie ist, und die Unterordnung der Frau unter den Mann predigen«. Dennoch sei man auch gegen den Ausschluss muslimischer Mädchen, da solche Maßnahmen diskriminierend seien und an den Ideen sowiewo nichts änderten. Nach einem Streit in der Gruppe habe man diesen Satz mit auf das Flugblatt genommen, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, betonen die Verteiler. Ähnlich argumentiert eine feministische Gruppe, »femmes publiques«.

Die beiden derzeit mit Abstand prominentesten Schülerinnen Frankreichs aber sind nicht gekommen. Nur wenige Tage später werden sie tatsächlich definitiv von der Schule verwiesen. Seitdem werden ihnen zahlreiche Berichte und Reportagen gewidmet.

Der Fall von Lila und Alma Lévy hat auch deswegen den oft sehr ideologisch-grundsätzlich ausgetragenen Streit neu angefacht, weil viele der ansonsten vorgetragenen Argumente auf ihr Beispiel offenkundig nicht zutreffen. Oft nimmt man an, dass die ein Kopftuch tragenden jungen Frauen nicht eigenständig handeln, sondern dem Druck ihrer Väter, Brüder und patriarchaler Traditionen nachgeben. Damit werden die Mädchen ausschließlich als Opfer und Betroffene wahrgenommen. Diese Einschätzung hilft aber gerade im aktuellen Fall wenig.

Denn unmittelbarer familiärer Druck scheidet hier zweifellos aus. Beide Elternteile konnten plausibel machen, dass sie keineswegs von ihren Töchtern erwarten, dass diese mit einem Kopftuch herumlaufen. Ihr Vater, Laurent Lévy, bezeichnet sich selbst als einen jüdischstämmigen Atheisten. Er arbeitet als Anwalt für eine Antirassismus-Organisation und gehört den »Erneuerern« am Rande der Kommunistischen Partei an. Ihre Mutter, Yamina Omrani, kommt selbst aus Algerien, aber sie ist nicht nur Kabylin – diese berbersprachige Bevölkerungsgruppe ist zum größten Teil laizistisch eingestellt –, sondern auch in ihrer Kindheit zum Christentum übergewechselt, da ihr Vater französischer Militärangehöriger war. Auch sie bezeichnet sich selbst als Atheistin.

Die Eltern äußerten sich ablehnend gegen das »islamische« Outfit, protestieren aber gegen den Schulausschluss ihrer Töchter. Auch Mitschüler schildern Lila und Alma nicht unbedingt als unterwürfige, stumme Wesen. Allem Anschein nach handelt es sich hier um eine Konfliktkonstellation, die manche sonst gängigen Schemata in Frage stellt. Denn es ist nicht nur das »Gesetz der Väter«, das die rund 400 Fälle pro Jahr erklärt, in denen die 1994 für solche Konflikte eingesetzten »Vermittlerinnen« angerufen werden – in den frühen Neunziger waren es noch über 1 100 Fälle im Jahr. Unterdrückung durch traditionell geprägte Familienstrukturen kommt vor, aber diese Erklärung stellt vermutlich nicht die Regel dar – alte Familienstrukturen sind in der Migration zerfallen, und gerade konservative Eltern spornen ihre Sprösslinge eher zur Nichtgefährdung des schulischen Erfolgs an. Nur ein Drittel der in Frankreich lebenden Menschen muslimischer Herkunft geben heute an, ihre Religion zu praktizieren.

Daneben aber gibt es andere Konstellationen, in denen die Konfrontation mit dem Schulsystem wurzelt. Da ist eine Mischung aus pubertärer Identitätssuche und in manchen Fällen eben religiös oder national definierter Selbstzuschreibung. Diese kann sich mit einem mehr oder weniger oberflächlichen Verständnis weltpolitischer Konflikte, etwa von Kriegen im Nahen und Mittleren Osten, oder der Erinnerung an die koloniale Vergangenheit der eigenen Familien vermischen und daraus ihre Vitalität beziehen. Der Druck, den die harte Ellenbogengesellschaft gerade der zerfallenden Sozialstrukturen in den Banlieues auf die Mädchen ausübt, die einem Teil der männlichen Jugend als »Freiwild« gelten, spielt ebenfalls eine Rolle. Die Flucht in vermeintlich tradierte Rollen scheint wenigstens vor solcherlei Übergriffen zu schützen, da andere Auswege, die die französische Gesellschaft früher bereithielt – etwa über die berufliche Emanzipation – heute oft versperrt erscheinen. Etwa durch die hohe Arbeitslosigkeit und die besondere Diskriminierung von Migrantentöchtern und Banlieue-Bewohnerinnen. Und nicht zuletzt ist das Kopftuch im laizistischen Frankreich auch eine sichere Provokation rebellierender Teenager.

Die Debatte um den Schulausschluss in Aubervilliers hat erneut das politische Spektrum in einer Weise durcheinander gewirbelt, die erkennen lässt, dass es hier tatsächlich keine einfachen Antworten gibt. Besonders die Linke und radikale Linke sind gründlich gespalten. Beide größeren marxistischen Parteien der radikalen Linken, die eher proletarisch-traditionalistische LO (Lutte Ouvrière) und die trotzkistisch-undogmatische LCR, stellen eine Reihe von Lehrern in der Oberschule von Aubervilliers, die im Übrigen eine Hochburg der Streikbewegung im Frühsommer dieses Jahres war.

Das unterscheidet die neueste Auflage des Kopftuch-Streits von dem ersten Konflikt, der im Mai 1989 entbrannte. Damals waren es konservative Schulverwaltungen, die Ausschlüsse aussprachen, teilweise aus erkennbar rassistischen Gründen, und die Linke war eher solidarisch mit den Migrantentöchtern. Heute dagegen geht der Riss mitten durch die radikale Linke, genauso wie durch das bürgerliche Spektrum. So stimmten die LO-Lehrer von Anfang an einem Schulausschluss zu, während die Pädagogen der LCR zuerst einen Kompromiss im Gespräch mit den Schülerinnen suchten. Angesichts von deren Unnachgiebigkeit stimmte dann allerdings auch die Mehrheit unter ihnen für den Ausschluss. In den Zeitungen der radikalen Linken hat dies für eine heftige Kontroverse gesorgt.

Für Überraschung gesorgt hat auch Jean-Marie Le Pen. Ende der achtziger Jahre sprach er sich noch strikt für repressive Maßnahmen aus, jetzt aber wandte er sich gegen ein Gesetz zum Verbot von Kopftüchern in den Schulen, wie bürgerliche Politiker es ins Gespräch brachten. Seine Begründung allerdings zeigt, dass er sich nicht gewandelt hat. Man solle doch ruhig erkennen, meint der alternde Faschist, dass »diese Leute uns nicht ähnlich sind und es nicht sein wollen«. Eine spätere Trennung der Bevölkerung, durch Abschiebung aller Immigranten, sieht er dadurch erleichtert.