Tariflohn wäre prima!

In den neuen Bundesländern sind die Gewerkschaften schwach. Entsprechend schlecht ist es um die Einhaltung des Arbeitsrechts bestellt. von udo van lengen

Ein Geschäftsführer muss den Arbeitnehmern nicht einmal drohen, wenn sie beispielsweise einen Betriebsrat gründen wollen. Die Leute wissen, dass eine übergroße Menge auf der Straße wartet, um den eigenen Arbeitsplatz mit Handkuss zu übernehmen«, erklärt Peter Ernsdorf, der Leiter des Verwaltungsbezirks Ostbrandenburg der IG Metall. Der Osten sei ein Experimentierfeld, um zu erproben, wie man die Gewerkschaften aushebeln könne. So sind Betriebsräte in den neuen Ländern dünn gesät, obwohl in jedem Betrieb mit mehr als fünf Angestellten ein Anspruch darauf besteht. Für Ernsdorf ist das ein mittlerer Skandal.

Der missglückte Streik im Sommer hat den Kritikern der Gewerkschaften neuen Auftrieb gegeben. Dabei sind sie keineswegs überflüssig. In den neuen Bundesländern werden in zahlreichen Betrieben arbeitsrechtliche und soziale Mindeststandards missachtet, besonders in Branchen, in denen nur geringe Qualifikationen erforderlich sind.

»Aber gerade dort ist die Bereitschaft, sich für seine Rechte einzusetzen, minimal«, sagt Ernsdorf. »Wir haben hier drei Großwäschereien, wo hauptsächlich Frauen arbeiten. Zwei haben mit Hilfe der Gewerkschaft einen Betriebsrat gewählt. In der dritten Wäscherei dagegen trauen sie sich nicht. Die Frauen sagen sich: ›Die paar Stunden Augen zu und durch.‹ Die Folge: Heuern und Feuern ist an der Tagesordnung.«

Die Gewerkschaften könnten in solchen Fällen helfen – wenn sie davon erführen. »Wir wissen häufig nicht, was in Betrieben ohne Betriebsrat passiert«, berichtet Ernsdorf. »Wenn wir Flugblätter verteilen, kommen wir durchaus ins Gespräch mit Angestellten aus nicht organisierten Betrieben. Die sagen dann meist: ›Tariflohn? Prima! Mitbestimmungsrecht? Super!‹ Aber wenn es darum geht, das bei der Leitung durchzusetzen, kneifen viele.« Hermann von Schuckmann, Verwaltungsstellenleiter der IG Metall in Ludwigsfelde, findet das feige: »Ein Betriebsrat ist immer durchsetzbar. Leider haben so einige Schwierigkeiten, ihren Arsch hochzukriegen. Aber die dürfen dann später auch nicht lamentieren.«

Vielleicht muss die IG Metall einmal an ihrer politischen Strategie feilen. Denn die Wünsche der Arbeiter in kleinen Betrieben spielen nur eine untergeordnete Rolle, während die Betriebsräte der Konzerne den größten Einfluss auf die offizielle Politik der Gewerkschaft haben. Seit Jahren laufen ihr daher vor allem die Mitglieder aus kleinen Betrieben davon. Dabei ist eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft außerordentlich wichtig, um einen Betriebsrat zu gründen.

Ernsdorf hofft, dass die Arbeiter und Angestellten trotz aller Vorbehalte langfristig denken und auf Mitsprache setzen. Der Betriebsrat biete ein Forum für alles, was mit der Arbeit zu tun habe. »Werden Leute entlassen oder der Betrieb geschlossen, versucht er, zusammen mit der Leitung Sozialpläne zu erstellen, und wenn die Löhne nicht pünktlich bezahlt werden, kann der Betriebsrat nachhaken. Ich kenne genug Betriebe, wo das Personal seit vier Monaten kein Geld mehr bekommen hat.«

Die sinkende Mitgliederzahl behindere schon jetzt ihre Arbeit, berichtet sein Kollege Schuckmann. »Wir können eigentlich alle Betriebe betreten, es ist aber schwierig dort, wo wir überhaupt keine Mitglieder haben. Und dort, wo wir welche haben, aber kein Betriebsrat vorhanden ist, müssen wir darauf achten, dass wir die wenigen Mitglieder nicht gefährden.« Die Arbeitnehmer, die sich organisieren möchten, setzen ihren Job aufs Spiel. Denn ihre Namen müssen bekannt gegeben werden. Sie seien zwar danach besonders geschützt, aber es komme immer wieder vor, dass ein Geschäftsführer die Namen erfahre, bevor sie offiziell benannt würden, erklärt Ernsdorf. »Die Folge ist entweder fristlose Kündigung oder Versetzung. Das ist die Strafe des Chefs, der damit ein Signal setzt: ›Niemals die Grenze überschreiten, die ich gezogen habe.‹«

Ein Beispiel ist Prettl Sensortechnik in Neuruppin. Dort stehen 150 Menschen, zumeist Frauen, täglich acht Stunden am Band; immer wieder müssen sie ohne längerfristige Ankündigung auch am Wochenende arbeiten. Im Schichtdienst produzieren sie Sicherheitskabel für die Automobilindustrie. In ihrem Arbeitsvertrag ist festgelegt, dass sie über ihren Lohn nicht sprechen dürfen. Das Fernsehmagazin »Monitor« enthüllte, dass die Mitarbeiter sich mit 5,11 Euro brutto in der Stunde begnügen. Die Angestellten haben keine Möglichkeit, sich zu wehren. Eine Initiative zur Gründung eines Betriebsrats unterband die Betriebsleitung. Die wenigen Gewerkschafter bei Prettl, die noch nicht entlassen sind, verschweigen ihre Mitgliedschaft.

Der Personalchef verteidigt die Lohnpolitik als derzeit unabdingbar: »Wenn der Automatisierungsgrad und die Effektivität nach der Anlaufphase erhöht sind, werden sich auch die Löhne entsprechend verändern. Im Augenblick gibt es keine andere Möglichkeit, die Chance zu erhalten, hier Arbeitsplätze aufzubauen.« Ob die Firma jemals mehr bezahlte, mochte er nicht beantworten. Prettl produziert schon seit 1992 in Neuruppin.

Ernsdorf hat für diese Art der Betriebsführung kein Verständnis. »Wenn ich ein Geschäftsführer wäre, wäre ich glücklich mit einer Arbeitnehmervertretung. Ich kann doch den Betrieb besser steuern, wenn ich von den Sorgen und Nöten meines Personals weiß. Und wenn es wirtschaftlich schlecht läuft, suchen alle gemeinsam nach Lösungen.«

Manchmal gibt es auch kleine Erfolge für die Gewerkschaft. Vor einem Jahr setzten die 110 Beschäftigten bei Confecta in Hennigsdorf bei Berlin einen Betriebsrat durch. Das Unternehmen fertigt Kabelkanäle. Trotz steigender Umsätze drohten Entlassungen und Lohnkürzungen, jetzt redet der Betriebsrat mit. Gegenüber »Monitor« sagte ein Betriebsratsmitglied, dass sie glücklich seien, es geschafft zu haben, ihre Rechte einzufordern. »Früher arbeiteten wir hier bis zu 16 Stunden, die Ruhezeiten wurden ignoriert.« Das sei nun vorbei. Entgegen dem allgemeinen Trend sind mittlerweile 80 der 110 Mitarbeiter Mitglieder der IG Metall.

Dennoch schwindet die Bedeutung der Gewerkschaften, auf lokaler wie auf Bundesebene. Mit Blick auf die anstehenden Reformen sagt Ernsdorf: »Ich habe das Gefühl, dass die Regierung die Gewerkschaften in einen Tiger ohne Zähne verwandeln möchte. Margaret Thatcher hat es einst vorgemacht.« Er befürchtet, dass die Minimalstandards sinken werden. Dennoch könne die Strategie nicht die sein, nur an Kanzlergesprächen teilzunehmen; dadurch werde die IG Metall eher schächer als stärker. »Wir müssen die Arbeitnehmer ansprechen, wenn sie jung sind, und nicht erst, wenn sie alt, gebrochen und kaputt sind.«