Bäumchen im Herbstwind

Von Verdi ist nicht viel Widerstand gegen den Sozialabbau zu erwarten. Auf ihrem Bundeskongress hat sich joel vogel umgesehen

Die schlimmsten Erwartungen an die Führung der Gewerkschaft werden noch übertroffen. »Bedeutet Stärke nicht Unverrückbarkeit? Während ich darüber nachdachte, fiel mir ein Baum vor meinem Hause ein, der sich in den ersten Herbstwinden in diesem Jahr bewegte. Und ich stellte fest: Falls er starr und unnachgiebig wäre, würde er brechen. Vielleicht ist es das, wofür Verdi steht«, philosophiert Margrit Wendt, die Vorsitzende des Gewerkschaftsrats. Ich muss bei »Herbstwind« auf dem Verdi-Bundeskongress eher an ein Fähnchen denken.

Das Motto der Delegiertenversammlung »Stark im Wandel« sagt tatsächlich schon alles über die gesellschaftspolitische Rolle, in der sich die Gewerkschaft sieht. Denn gemeint ist keinesfalls, dass man in Zeiten des Wandels Stärke zeigen will. Ganz im Gegenteil wird eine Stärke des Wandels an sich in Zeiten des unsozialen Umbaus der Gesellschaft von Margrit Wendt in ihren ersten Worten an das Plenum herbeihalluziniert.

Was erwarte ich, wenn ich mit dem Auftrag, den Kampfeswillen der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) zu erforschen, ihren Bundeskongress besuche? Revolutionäres Potenzial? Sozialromantik? Jedenfalls wesentlich mehr Entrüstung, Entschlossenheit und Aufstand, als in der vergangenen Woche im Plenarsaal und auf den Gängen des Internationalen Congress Centrums (ICC) in Berlin zu finden waren.

Die Konsensfähigkeit, der Dialog werden beschworen angesichts einer Sozialpolitik, über die es auch aus einer gewerkschaftlichen Perspektive nichts zu reden geben dürfte. Es kann nicht um Verbesserungen gehen, um Detailfragen, um Zugeständnisse und Trostpreise. Es geht nicht um ein größeres Stück des Kuchens, es geht um den Kuchen überhaupt.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, bringt die Bedeutung des Kongresses in seiner Rede auf den Punkt, indem er die vom Bundeskongress mit über 1 000 Gewerkschaftern ausgehende Wirtschaftskraft lobt. So sind Gewerkschaften wohl gelitten. Sie leisten ihren Beitrag zum wirtschaftlichen Wachstum. Und was war noch mit dem Kuchen? Ein Glück, dass die heutigen »starken Gewerkschaften« den »sozialen Frieden« in Deutschland sichern. Im Protokoll ist nicht einmal ein Murmeln im Saal vermerkt.

Das ist zu viel. Mal sehen, ob sich die Helden der modernen ArbeiterInnenbewegung an der Kaffeebar herumtreiben. Tatsächlich gibt es dort den Stand des Ressorts 13, der Verdi-ArbeiterInnen, bei denen es neben Bonbons, Kartenspielen und Spielzeugtrucks auch ein politisches Programm gibt. Darin finden sich noch altmodisch anmutende »Lohnabhängige«, gegen deren »Vereinzelung im Arbeitsprozess« es zu kämpfen gelte. Der freundliche Arbeiter am Tresen zieht jedoch eine bittere Bilanz des derzeitigen Kampfeswillens und der Solidarität.

»Eines funktioniert: die Leute gegeneinander auszuspielen. Die meisten haben den aufrechten Gang verlernt und lassen sich einschüchtern.« Er weiß, wovon er spricht, als Gewerkschafter im Fachbereich der Sicherheitsunternehmen. Eine »boomende Branche«, die sich gerne aus dem Humankapital der Erwerbslosen und Sozialhilfeempfänger bedient. Es ist ein perfides System von Ausschluss und Teilhabe, das den Menschen die Hoffnung auf Anerkennung eröffnet, unter der Bedingung, andere zu kontrollieren. »Hebst du jemand von einer Ebene auf die andere, übt er schon wieder Druck nach unten aus.« Gemeint sind Parkwächter, welche die lokale Biertrinkerszene vertreiben, U-Bahnkontrolleure, denen mit Fangprämien die Jagd auf Mitmenschen schmackhaft gemacht wird, vielleicht auch die modernen Jobvermittler, die zukünftig mit noch umfassenderen Instrumentarien zur Disziplinierung ihrer Kunden ausgestattet sein werden.

Andersherum funktioniert die Solidarität besser. Auf die Frage, ob jetzt nicht die Zeit zum frontalen Angriff auf die Ämter sei, kommen einer Junggewerkschafterin Bedenken wegen der »Kollegen auf den Ämtern«. Ein etwas älterer Kollege findet, man solle Protest nicht so »drastisch« wie etwa durch Sachbeschädigung zeigen, denn »den Schaden müssen wir am Ende ja auch zahlen, von den Steuergeldern«. Und wie hält er es mit dem Widerstand? »Zur Demo gegen die Agenda 2010 am 1. November gehen!« Er ist zuversichtlich, das sich Verdi dem Aufruf einiger Regionalgruppen zur Großdemonstration in Berlin auch noch anschließen wird.

Der Gewerkschafter wirkt ein wenig hilflos, als er konstatiert, die Hartz-Reformen trieben viele Leute in menschenunwürdige Zustände. Er murmelt etwas von »Gerechtigkeitslücke«, wobei nicht so richtig klar ist, wo denn die Lücke und wo die Gerechtigkeit ist; aber da hat er sich schon wieder gefangen und sagt, was wir bräuchten, sei ein »erträgliches Maß der Arbeitslosenquote«. Eine bezahlte Beschäftigung, ist das seine bescheidene Forderung an ein würdiges Leben?

Die »Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft«, mit denen er am 1. November gemeinsam demonstrieren wird, backen größere Brötchen. In ihrem Aufruf heißt es: »Menschenwürdige Verhältnisse würden dort anfangen, wo Finanzierungsfragen aufhören – also erst dann, wenn die bornierte Form des Geldes auf dem Müllhaufen der Geschichte landet, zusammen mit allen anderen Verkehrsformen der Klassengesellschaft.«

Mit der Klassengesellschaft kann der gerade aus dem Plenarsaal tretende Kollege etwas anfangen. Ja, man müsse die Reichen stärker in die Pflicht nehmen, es fehle deutlich an Beteiligung zur Überwindung der Krise. Doch es sei ja schwierig geworden, seit ihnen der »Bündnispartner« – es ist ihm sichtlich unangenehm, dieses Wort – abhanden gekommen ist.

Dem ehemaligen Bündnispartner in Gestalt von Franz Müntefering haben die Gewerkschafter soeben ihre Ablehnung gezeigt. Er sei schon irritiert gewesen, stimmt die Kollegin zu und grinst verschmitzt. Sie trägt wie ihr Kollege ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Soziale Bewegung« und hat sich an der Protestaktion gegen die parteipolitischen Redner dieses Kongresses beteiligt. Die meisten Delegierten drehten dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Müntefering den Rücken zu. Dabei wedelten sie mit ihren roten Stimmkarten in der Luft. Sie sind zufrieden mit ihrer Aktion, denn sowas habe es noch nicht gegeben. »Und wer schweigt, kann nicht niedergebrüllt werden.«

Gab es das denn schon, frage ich, wurde jemand niedergebrüllt? Aus meiner Stimme klingt Hoffnung, ich suche nach Streit, Emotion, Ausbruch. »Nein, also hier … nein, es läuft alles gut.« Aha, es läuft also alles gut. Na dann mal weiter.

Ein wenig ratlos sitzen die drei Vertreter des Koordinierungsausschusses gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen an ihrem Stand, kaum wahrnehmbar in der hinterletzten Ecke abgestellt. Sie mutmaßen, dass der Grund für die allzu spärlichen Besuche der Gewerkschaftsdelegierten an ihrem Stand in den fehlenden Bonbons liege. Deprimiert müssen sie feststellen, dass sich tatsächlich niemand so richtig für ihre Arbeit und das Thema Erwerbslosigkeit interessiert. Dabei sind allein bei Verdi über 200 000 Erwerbslose organisiert.

Die lang gesuchte kritische Stimme findet sich schließlich bei einer Junggewerkschafterin, die den Kongress als »wenig kraftvoll« bezeichnet. Nur in den »Pausengesprächen« komme der Unmut der Kollegen noch zum Ausdruck. Von der Demo hält sie nicht viel, sie glaubt vielmehr an Basisarbeit und Aufklärung in den Betrieben. Da sei noch viel zu tun, denn in Deutschland gebe es ja nicht so eine Streikkultur wie in anderen europäischen Ländern. Wohl wahr. Von Streik ist hier nicht viel die Rede.