Leben nach dem Tod

Die Kunstwerke Berlin zeigen die beeindruckenden Fotos, die Taryn Simon von unschuldig Verurteilten aufnahm. von richard rabensaat

Alle Bilder, die ich im Strafverfahren gesehen hatte, vermischten sich und wurden zu dem Gesicht von Ron. Ron wurde der Täter«, sagt Jennifer Thompson. Auf einem Foto der New Yorker Fotografin Taryn Simon hält Ronald Cotton die schlanke Frau nun im Arm. Cotton wurde schuldig gesprochen, Jennifer Thompson und ihre Freundin vergewaltigt zu haben. Er war aber in Wirklichkeit, so stellte sich später heraus, unschuldig.

Nachdem Taryn Simon von der New York Times den Auftrag für eine Fotoserie über unschuldig Verurteilte bekommen hatte, ließ sie das Thema nicht mehr los. Nach Abschluss des Auftrages recherchierte sie weiter. So entstand die Fotoserie »die Unschuldigen«, die derzeit in den Berliner Kunstwerken zu sehen ist.

Thompson und ihre Freundin wurden in ihrem Appartement vergewaltigt. Ein Mann war in die Wohnung eingedrungen, hatte die Telefonleitungen durchgeschnitten und die beiden Freundinnen ausgeraubt. Nach den Angaben der Frauen fertigten die Ermittler zunächst eine Skizze des Mannes an, der die Frauen angegriffen hatte. Als die Zeichnung dann hinreichend genau war, entstand auf dieser Grundlage ein Phantomfoto. Ronald Cottons Physiognomie ähnelte unglücklicherweise dem so zustande gekommenen Bild. Der groß gewachsene Afroamerikaner wurde daraufhin verhaftet, angeklagt und verurteilt. Dass die zweite Frau Cotton nicht identifizieren konnte, hielt das Gericht für unbeachtlich. Als der Prozess wegen eines Verfahrensfehlers wieder aufgerollt wurde, bekannte sich ein Insasse des Gefängnisses, in dem Ronald Cotton inhaftiert war, zu der Tat. Die Richter interessierte das nicht, sie bestätigten die lebenslange Haftstrafe für Cotton.

Erst elf Jahre später stellte das Gericht die Unschuld Cottons aufgrund eines DNA-Tests fest. Nun gelangte es zu dem Schluss, dass tatsächlich der Mann die Tat beging, der sich auch zuvor selbst beschuldigt hatte. Jennifer Thompson war erschüttert über das Unrecht, das aufgrund ihrer Aussage Cotton angetan wurde. Sie engagierte sich öffentlich gegen die unkritische Verwendung von Augenzeugenberichten in amerikanischen Strafprozessen.

Thompsons Verfahren ist nur eines von vielen, in denen sich nachträglich die Unschuld der Verurteilten herausgestellt hat. Mit Hilfe von DNA-Tests wurden in den letzten Jahren die Beweismöglichkeiten erheblich verbessert. Aus winzigen Partikeln können nun sichere Rückschlüsse über Tatbeteiligungen gezogen werden.

Simons Fotos dokumentieren die Geschicke einiger unschuldig Verfolgter. Die Fotografin bat die Verurteilten, den Ort für die Aufnahmen selbst zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken zu posieren. Sie regte an, den Ort zu wählen, an dem das Verbrechen geschah, einen Platz, den die Justizopfer vorher nie betreten haben. So entstand eine Konfrontation der gelebten Gegenwart mit der fiktionalen Vergangenheit.

Kontakt zu ihren Objekten bekam die Fotografin über das Projekt »The Innocent«. Dieses hat es sich zur Aufgabe gemacht, Verurteilte zu unterstützen, deren Unschuld durch einen DNA-Test zweifelsfrei festgestellt werden kann.

Die vielen Fehlurteile haben ihre Ursache auch im amerikanischen Rechtssystem. Während im deutschen Recht der Staatsanwalt der Wahrheitsfindung verpflichtet ist, ist der amerikanische Ankläger nicht gehalten, auch die den Angeschuldigten entlastenden Umstände zu berücksichtigen. Der amerikanische Strafprozess ist ein Parteiprozess. Ebenso wie die Verteidigung versucht die Staatsanwaltschaft ein subjektives Bild der Wirklichkeit zu zeichnen. Dem dienen inquisitorische Zeugenbefragungen und die aus Gerichtsfilmen bekannten Ermahnungen an die Zeugen, nur auf die gestellten Fragen zu antworten. Denn aus den Antworten ergibt sich das dann von der Jury zu bewertende Bild der Wirklichkeit. Die letztendlich abgeurteilte Version der Realität entspricht häufig eher den Vorurteilen von Staatsanwaltschaft und Jury, und nicht so sehr dem tatsächlichen Geschehen.

Oftmals handelt es sich bei den Verurteilten um Schwarze oder sozial schwächer Gestellte, die sich vor Gericht keine ausreichende Verteidigung leisten konnten. »Es gibt zwei Arten von Justiz, die für den armen Mann und die für den Reichen. Ich war arm, das war’s«, stellt Ronald Jones fest. Acht Jahre saß er im Gefängnis – aufgrund eines Geständnisses, das nach seiner Aussage unter Gewalteinwirkung zustande kam. 14 Jahre nach der Tat bestätigte der DNA-Test seine Unschuld. Er hatte als obdachloser Alkoholiker einfach zu gut in das Bild gepasst, das sich Staatsanwaltschaft und Jury von dem Täter gemacht hatten.

Dass allerdings subjektive Ansichten des Anklägers über die Beschaffenheit des Täters ein erhebliches Übergewicht bekommen können, liegt auch in der Rollenverteilung im Prozess begründet. Der Ankläger ist im Normalfall ein bestellter politischer Funktionär und begreift seinen Posten oftmals als Karrieresprungbrett. Dennoch obliegt seiner Entscheidung die Anklageerhebung. Steht dem das Verfahren im amerikanischen Recht dominierenden Staatsanwalt dann kein entsprechender Rechtsanwalt gegenüber, können sich Tragödien wie die von Ron Williamson ereignen.

Zum Tode verurteilt, schrie er im Gefängnis seine Unschuld gegen die Gitter. Als ihn niemand hörte, rannte er mit dem Kopf gegen die Wand. Erst ein DNA-Test brachte die Gewissheit, dass nicht er, sondern die Person, die Hauptzeuge der Anklage gewesen war, die Tat begangen hatte.

Die Berichte der Unschuldigen waren für die Fotografin Taryn Simon der Anstoß, über die Möglichkeiten der Fotografie zur Schilderung der Realität nachzudenken und über die abgelichtete Wirklichkeit zu reflektieren.

Aber auch die anderen Arbeiten von ihr, die jetzt in den Kunstwerken gezeigt werden, sind erstaunlich. Immer wieder gelingt es Simon auch hier, bekannte Sujets aus einer ganz eigenen Perspektive zu erfassen.

Fidel Castro etwa hat sie in seinem Palast fotografiert. Auf den spiegelglatten Böden des öffentlich nicht zugänglichen und in Kuba auch nicht offiziell gezeigten Palastes bricht sich gelblich die opulente Deckenbeleuchtung. Castro blickt wie ertappt in die Kamera. Simon hat es geschafft, den Potentaten in einem Moment zu fotografieren, in dem er allein, fast verloren, bar jeder Machtattitüde, in dem kahlen Ambiente steht.

In Tschetschenien und in Aserbaidschan spürte Simon Rebellen nach. Die verstümmelten Kämpfer stehen in zerfallenen Häusern, sitzen auf Krankenhausbetten. In den Bildern scheint sich die Geschichte des nicht enden wollenden, sinnlosen Gemetzels zu verdichten. Die Fotos wirken, als gäbe es aus ihnen ebenso wenig ein Entkommen wie aus den politischen Verstrickungen des Konfliktes.

Mit ihrer konstruierten Bildfindung verdichten die Fotoserien die Wirklichkeit. Simon macht keine dokumentarischen Schnappschüsse. Zwar geht ihren Bildern eine gründliche journalistische Recherche voraus, aber die ist nur die Basis für das dann inszenierte Bild.

Das Wesen, der Charakter eines Menschen, ist mit der Bildermaschine nicht zu fassen. Immer bleibt das Bild eine Inszenierung. Und gerade deshalb sind die Fotos von Simon ehrlicher als die zufällig anmutenden Schnappschüsse des Mode- und Schockfotografen Terry Richardson, die im oberen Stockwerk der Kunstwerke zu sehen sind.

Taryn Simon. Kunstwerke Berlin. Noch bis zum Januar 2004