Mangel, verwaltet

Der Sozialstaat dient der kapitalistischen Elendsbetreuung. Sieben Thesen und eine Konsequenz. von freerk huisken

Ohne Mühe lässt sich am Sozialstaat ablesen, wie wenig freundlich es kapitalistische Unternehmungen und der bürgerliche Staat mit lohnabhängigen Zeitgenossen meinen. Die Rede ist dabei nicht nur vom aktuellen Abbau des Sozialstaats. Die prinzipielle Kritik trifft auch seine Hochphase. Dennoch hat diese Einrichtung bis vor kurzem nur Lob geerntet, in welchem sich Gewerkschafter, sozialdemokratische Abweichler und der Rest der deutschen Linken mit den staatlichen Verwaltern des Sozialsystems einig wussten. Diese Einheitsfront der Sozialstaatsfreunde hat inzwischen Risse bekommen. Denn die letzten Regierungen sind zunehmend mit ihrem Produkt unzufrieden und bauen es so gründlich um, dass nun von einem »Systemwechsel« die Rede ist. Die andere Abteilung der Front meldet Einwände an und möchte den alten Sozialstaat erhalten. So sehr einerseits Kritik am Abbau angebracht ist, so unangebracht ist es andererseits, deswegen den Sozialstaat verteidigen zu wollen.

1. Die Existenz des Sozialstaats belegt eindrucksvoll zwei Grundtatbestände des Kapitalismus: Zum einen lässt sich ihr entnehmen, dass kapitalistische Betriebe massenhaft, unablässig, also mit Notwendigkeit ihre Arbeitskräfte immer wieder in diverse existenzielle Notlagen bringen. Sie setzen sie auf die Straße und ruinieren ihr Arbeitsvermögen so unwiderruflich, dass kein Betrieb sie weiter beschäftigen will.

Zum anderen weist die Geschichte dieser Hilfseinrichtung auf, dass Lohnarbeiter vermittels ihres Verdienstes diese Not nicht bewältigen können. Denn immer dann, wenn der Kapitaleigner ihre Arbeit für unbrauchbar erklärt, sind sie auf die Hilfe des Sozialstaats angewiesen. Mit dem Lohn kann der einzelne Arbeiter also nur in jenen Perioden seinen Lebensunterhalt finanzieren, in denen er ihn verdient. Kaum verdient er nichts, hat er nichts. Der Sozialstaat offenbart folglich ein Armutszeugnis über den Lohn: Der Mensch, der hierzulande auf Lohnarbeit angewiesen ist, der sich in Fabrik und Büro abplagt, erfährt, dass der Lohn, den er dafür erhält, fürs Leben insgesamt gerade nicht reicht.

2. Dieses zu allen Zeiten und allerorten erfahrbare Urteil über Lohnarbeit führt nicht dazu, dass die auf der Hand liegenden Ursachen für den regelmäßigen und massenhaften Verdienstausfall einkommensabhängiger Menschen gesellschaftlich bekämpft werden. Mit der Einrichtung des Sozialsystems stellt der bürgerliche Staat vielmehr klar, dass die alleinigen Verursacher dieser Notlagen, die kapitalistischen Betriebe, nicht nur nicht »zur Verantwortung gezogen«, sondern geschont werden sollen. Wo eine staatliche Notfallverwaltung in großem Stil aufgezogen wird, da geht es allein darum, die Folgen und Auswirkungen kapitalistischer Benutzung von Arbeitern »abzufedern« und »abzumildern«. Die ruinöse Benutzung selbst ist mit dem Sozialstaat als Normalfall des kapitalistischen Arbeitsalltags ins Recht gesetzt.

3. Mit der Finanzierung dieser Notfallverwaltung sichert der Sozialstaat die kapitalistische Lohnkalkulation noch einmal gegen alle Forderungen der Arbeiterschaft ab. Dass Lohn nur gezahlt wird, wenn er sich für den Betrieb lohnt, daran soll nichts geändert werden. Folglich werden die Hilfsgelder weder den Kapitalisten abgeknöpft, noch dem Staatshaushalt entnommen. Solche Gelder sind viel zu »kostbar«, um sie bloß für den Konsum unbeschäftigter Massen auszugeben. Aufgebracht werden diese Hilfsgelder von den Geschädigten selber. Per Zwangseinzug werden die Arbeiter um beträchtliche Teile ihres Verdienstes – inzwischen bis 40 Prozent – ärmer gemacht. Das ist schon paradox: Der Lohn, der beim einzelnen Arbeitsmenschen nicht ausreicht, um sich in den periodischen Notfällen über Wasser zu halten, soll zusammen mit allen anderen Löhnen, also als Gesamtlohn der Lohnbezieher, ausreichen!

Ob das geht, ist nicht die Frage. Die Armutsverwalter des Sozialstaats haben dafür zu sorgen, dass es geht. Und so verteilen sie nur den Mangel, der Lohnarbeit auszeichnet, eifrig zwischen allen Versicherungspflichtigen um. Mit seinem Versicherungssystem zwingt der kapitalistische Staat folglich die Arbeiter dazu, selbst untereinander und gegenseitig die Haftung für jene Notlagen zu übernehmen, die das Kapital regelmäßig an ihnen herstellt. So etwas wird dann als Solidarprinzip und Generationenvertrag allseits gepriesen. Das Anliegen, den Sozialstaat überflüssig zu machen, gilt damit ab sofort als zynisch.

4. Der Sozialstaat belegt mit dieser Finanzierung eindrucksvoll, dass die Hilfe, die in Fällen von Arbeitslosigkeit, Krankheit usw. gewährt wird, alles andere als ein »faules Leben in der sozialen Hängematte« ermöglicht. Die in Notfällen ausgezahlten Leistungen sind vielmehr so kalkuliert, dass sie den Empfänger dazu nötigen, sich schnellstens wieder um bezahlte Arbeit zu bemühen – um jenes Arbeitsverhältnis also, das ihn gerade in die Geldnöte gebracht hat. Niemand kann eine Familie mit 55 bis 65 Prozent jener Geldsumme ernähren, die ohnehin kaum zur Bezahlung aller Notwendigkeiten reicht. Mehr ist nicht drin und nicht bezweckt.

5. Mit dem Zwang zur schnellstmöglichen Wiedereingliederung in den kapitalistischen Arbeitsprozess räumt der Sozialstaat mit allen Einbildungen auf, in denen er mit einer karitativen Einrichtung für in Not geratene Lohnempfänger verwechselt wird. Er versteht seine soziale Hilfe vielmehr als Dienstleistungsunternehmen für die Klasse seiner Lieblingsbürger, der Kapitaleigentümer. Denn der Zwang, dem sich die »Leistungsempfänger« unterziehen müssen, sorgt dafür, dass es den Betrieben auch in Zeiten guter Konjunkturen nie an willigem und billigem Arbeitsmaterial fehlt. Die einkommensabhängigen Klienten des Sozialstaats bilden nicht nur die »Reservearmee« (Marx), die genötigt ist, die erstbeste Arbeit anzunehmen. Selbst im Wartestand erfüllen sie für die Unternehmerklasse noch einen Dienst: Als Unbeschäftigte drücken sie permanent auf den Lohn der Beschäftigten, was Kapitalisten weidlich auszunutzen pflegen.

6. In der jüngsten Gegenwart wird nun der Sozialstaat unter solidarischem Einsatz aller politischen Parteien umgekrempelt. Wenn das Kapital eine immer größere Masse an Notfällen aller Art produziert, dann hat dies zwei korrespondierende Konsequenzen. Einerseits wächst damit der Finanzbedarf der sozialen Sicherungssysteme für alle Hilfsleistungen; andererseits werden aber aus demselben Grund die Beitragszahlungen geringer. Immer verhält es sich so, dass der Sozialstaat gerade in Zeiten des erhöhten Finanzbedarfs nur einen geschrumpften Gesamtlohn zur Ausplünderung vorfindet. Dann verstehen sich die bekannten Konsequenzen von selbst: Mehr abkassieren und/ oder weniger auszahlen! Verwundern kann das nicht, wo der Sozialstaatstopf eben als die abhängige Variable des vom Kapital gezahlten Gesamtlohns etabliert ist.

Zu dieser Lage hat der Staat nun eine neue Stellung eingenommen. Denn inzwischen steigt die Zahl der Arbeitslosen so sehr, dass diese als Arbeitskraftreserve insgesamt gar nicht mehr gebraucht werden. Deswegen gilt der herkömmliche Sozialstaat als nicht mehr finanzierbar und die Arbeiterklasse insgesamt als zu teuer. So werden »alte, erkämpfte Besitzstände« gnadenlos zusammengekürzt. Das schafft zwar jede Menge Menschenschrott, der aber in Kauf genommen und ordnungspolitisch betreut wird.

Zugleich wird die Massenarbeitslosigkeit von Politik und Unternehmern einer neuen Deutung unterzogen. Wenn vermehrt Arbeitslose anfallen, dann ist die Arbeit eben fürs Kapital zu teuer und muss billiger gemacht werden. So lässt sich der »Sozialabbau« als eine einzige Offensive zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen verkaufen. Die neue Qualität hiesiger Volksverarmung wird als Investition in zukünftige Arbeitsplätze zurechtgelogen, für die eben erst einmal die Gewinnlage der Betriebe verbessert werden muss. Dabei ist Massenarbeitslosigkeit nicht das Produkt »unbezahlbarer Löhne«, sondern der maßlosen Steigerung der Arbeitsproduktivität, welche die Kapitalisten dafür einsetzen, um aus immer weniger Arbeitskräften bei immer geringeren Lohnkosten immer mehr Gewinn herauszuholen. Die alte sozialstaatliche Lüge vom Lohn, der sich mit dem Profit verträgt, wird aus dem Verkehr gezogen und durch die praktische Klarstellung ersetzt, dass sich Profit und Lohn eben sehr grundsätzlich nicht vertragen.

7. Inzwischen erweist sich die sozialstaatliche Verfügung über erhebliche Teile des Lohns als ein einziger Segen fürs neue Lohnverbilligungsprogramm. Munter wird auch noch an jenen Teilen des Lohns herumgekürzt, die Lohnnebenkosten heißen. Der Sozialstaat betätigt sich jetzt als zweites Subjekt der Volksverarmung. Er funktionalisiert nicht allein proletarische Not – was sein bisheriges Anliegen war –, er produziert sie zugleich mit. Warum das heute deutschen Politikern einfällt, ist kein großes Geheimnis: Sie haben beschlossen, nationale Erfolge in der weltweiten Konkurrenz führender Kapitalstandorte zu ihrer Sache zu machen. Und wenn ihnen eine Wirtschaftskrise dazwischen kommt, dann müssen dem Kapital um so mehr alle Hindernisse fürs Wachstum aus dem Weg geräumt werden, also neben den »zu hohen« Lohnkosten die Flächentarifverträge, der Kündigungsschutz usw. In ihrem nationalen Aufbruchsprogramm wollen sie sich durch nichts und niemanden beirren lassen.

Die Kritik des Sozialabbaus ist nötig. Der Kampf gegen den Sozialabbau, der den alten Sozialstaat retten will, ist jedoch verkehrt. Wer den alten gegen den »modernen« Sozialstaat verteidigen will, der hält angesichts neuer Verelendung an der alten Elendsbetreuung fest. Der hat längst akzeptiert, dass die bleibende Grundlage des Sozialstaats die permanente und massenhafte Produktion von Schadensfällen aller Art durch das Kapital ist.

Die Thesen sind die schriftliche Fassung eines Vortrags auf der Jungle-World-Veranstaltung »work hard, die young – zum Abbau des Sozialstaats« am 21. Oktober in Hamburg.

Freerk Huisken ist Professor für Politische Ökonomie des Ausbildungssektors an der Universität Bremen.