Mit Gott, Öl und Castro

In Venezuela will die Regierung mit sozialen Reformen die Marginalisierten an sich binden. Die Opposition hofft dennoch, Präsident Hugo Chávez durch ein Referendum stürzen zu können. von stefanie kron und simón ramírez voltaire

Hugo Chávez Frías streichelt das Christuskreuz. »Die venezolanische Kirche geht nicht den Weg Gottes«, sagt er dabei. Der Ort, an dem der Präsident nonchalant der katholischen Autorität die Definitionsmacht abspricht, ist die sonntägliche Fernsehshow »Aló Presidente«.

Die Frage, wer sich diese Mischung aus Ansprache an die Nation, Seelsorge und Talkshow, die schon mal sechs Stunden dauern kann, eigentlich anschaut, ist schnell beantwortet. Man trifft sich mit Chips und Cola, um im Freundeskreis die neueste Ausgabe im Staatsfernsehen anzuschauen, erklärt der arbeitslose José aus Caracas, der wie Dutzende andere tagsüber an der »Heißen Ecke« an der Plaza Bolívar in der Hauptstadt steht, um die politische Lage zu diskutieren. Chávez, der sich während der Show anrufen lässt und Studienstipendien vergibt oder mit bunten Filzstiften eine Konjunkturkurve auf ein Flipchart malt, spreche die Sprache der einfachen Leute.

Diese Mischung aus Politik und Unterhaltung, die akademisch Mediokratie genannt wird, ist eigentlich der Normalzustand zeitgenössischer Politik. Chávez praktiziert das bloß weniger verblümt. Nicht nur mit ihrem Stil sprengten Chávez und seine Mitstreiter, die selten Krawatten tragen und kaum jemanden siezen, die Konventionen der Politik. Auch ihr Regierungsprogramm ist nicht leicht einzuordnen.

Die einzelnen Elemente sind nicht neu. Sie reichen von bekannten neoliberalen Maßnahmen über Projekte zur Armutsbekämpfung aus dem Katalog der Weltbank und der NGO bis zur Einführung sozialstaatlicher und partizipativer Strukturen. Ein verzweigtes staatliches Kleinkreditsystem mit niedrigen Zinsen, das vor allem die Frauen der Unterschicht als Kleinstunternehmerinnen in den Marktkreislauf einzubinden sucht sowie Anreize zur Bildung von Produktions- und Vermarktungskooperativen gibt, soll die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten vermindern.

In Planung sind aber auch der Aufbau einer landesweiten Infrastruktur für gesundheitliche Basisdienste und eines Rentensystems, das sogar die Hausfrauen einbezieht. So wirkt das aktuelle Regierungsprogramm wie ein Gemischtwarenladen. Zusammengehalten wird es mit dem Begriff der »internen nachhaltigen Entwicklung«, die in der Verfassung von 1999 als Staatsziel verankert ist.

Seit September kann in Venezuela das mandato revocatorio (Widerrufsmandat) praktiziert werden. Es bedeutet, dass jedem gewählten Amtsträger per Abstimmung das Mandat wieder entzogen werden kann. Die Regelung gilt für Kommunalpolitiker ebenso wie für den Präsidenten, was sie einzigartig in der Welt macht, wie Vizepräsident José Vicente Rangel gegenüber der Jungle World betonte. Sie sei die am weitesten entwickelte Form der Demokratie und soll als ein Alternativmodell zur kriselnden repräsentativen Demokratie verstanden werden.

Das mandato revocatorio ist der staatsphilosophische Kern der Verfassung der nach dem 1783 in Caracas geborenen südamerikanischen Befreier benannten Bolivarischen Republik. An die aufklärerischen Ideale und vor allem die Leitidee Simón Bolívars, zuerst souveräne Staaten zu gründen, um sie dann zu vereinen, wollen die Bolivaristen um Chávez anknüpfen.

Die in der Verfassung enthaltene Kritik am repräsentativen Parlamentarismus ist ein linker Topos. Im Rätesystem gilt das »imperative Mandat« als das wichtigste Element, ein Amtsträger soll an das Mandat seiner Wähler gebunden und jederzeit abwählbar sein.

Freilich bleiben auch in Venezuela trotz des Widerrufsmandats und weiterer plebiszitärer und basisdemokratischer Elemente die Form des Staates und die Eigentumsverhältnisse im Prinzip unangetastet. Und gewählte Repräsentanten vorzeitig abzuberufen, ist in einigen schweizerischen Kantonen und deutschen Kommunen ebenso wie in manchen Bundesstaaten der USA möglich, wo Arnold Schwarzenegger Anfang Oktober in Recall-Wahlen Gray Davis als Gouverneur Kaliforniens ablöste.

Die Opposition, hauptsächlich aus Mittel- und Oberschichtlern bestehend, die um ihre Privilegien fürchten, fordert seit über einem Jahr das Referendum gegen Chávez. Da es zwar verfassungsgemäß ist, die Durchführungsbestimmungen allerdings noch nicht ausgearbeitet waren, konnte es bislang noch nicht abgehalten werden. Für die Opposition war das eine bequeme Position, die sie jetzt aufgeben musste. Chávez wird Umfragen zufolge noch immer von 30 bis 50 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Ob die rund 57 Prozent, die gegen ihn aufgebracht werden müssen, zusammenkommen, ist fraglich. Einfacher war es, vor allem gegenüber der internationalen Öffentlichkeit, das Referendum bloß zu fordern und damit zeigen zu wollen, die Regierung sei antidemokratisch.

Als im vergangenen Monat endlich Abberufungsreferenden beantragt werden konnten, hatte die Opposition ihr wichtigstes Ziel zu einem hohen Preis erreicht. Denn nicht nur über Chávez wird abgestimmt. Die Chavistas reichten gleichzeitig rund 50 Anträge gegen Vertreter unterer staatlicher Ebenen ein – in der Mehrzahl Gouverneure und Abgeordnete der Opposition. Der Schuss könnte also nach hinten losgehen.

Dennoch ist Chávez unter Druck geraten. Dem im Dezember des vergangenen Jahres von der Oligarchie, allen voran das Management der nationalen Ölgesellschaft PDVSA, inszenierten »Streik« schlossen sich hunderte von Unternehmern im ganzen Land an, darunter Betreiber von Supermarktketten und die Lebensmittelimporteure. So wurden nicht nur das Benzin knapp, sondern auch Butangas und Lebensmittel. Der Regierung wurde damit schmerzlich bewusst, was es bedeutet, ökonomisch nicht über ein Land bestimmen zu können, das fünftgrößter Erdölexporteur der Welt ist und gleichzeitig 70 Prozent der Lebensmittel importieren muss.

Die Folgen des dreimonatigen ökonomischen Putsches ertrug hingegen vor allem die Bevölkerung der Armenviertel von Caracas. In den schnell anwachsenden Barrios, die sich an den steilen Berghängen rund um das Zentrum der Metropole hochziehen, hat Chávez seine stärkste Basis. Allein im städtischen Verwaltungsbezirk El Libertador, der zu den ärmsten gehört, leben zwei Millionen Menschen, rund ein Drittel der Bewohner der Hauptstadt.

So erklärt sich, dass die Regierung im Frühjahr mit einem Paket von Sozialprogrammen in die Offensive ging. Alphabetisierungskampagnen, städtische Landwirtschaftsprojekte zur Selbstversorgung, der Vertrieb subventionierter Lebensmittel und ein ambitioniertes Gesundheitsprogramm wurden auf den Weg gebracht. Die Sonderprogramme der Regierung sind auf die Lebensbedingungen in den Barrios zugeschnitten und nutzen die vorhandenden Netzwerke ihrer Bewohner, die einst aufgrund mangelnder sozialer Infrastruktur in Selbsthilfe entstanden. Das macht die Maßnahmen für die Regierung effektiv. Sie sind kostengünstig, binden die Basis und stoßen gleichzeitig auf große Akzeptanz. Das Paradebeispiel ist das in El Libertador als Pilotprojekt gestartete Gesundheitsprogramm Barrio Adentro, was so viel bedeutet wie »im Innern des Stadtviertels«.

Zum Auftakt reisten 500 kubanische Ärzte an, die nur zu gut wissen, dass die Armen aufgeklärt und organisiert sein müssen, wenn man erfolgreich improvisieren will. 600 weitere Mediziner aus Kuba werden bis Ende des Jahres nach Caracas kommen, um vor allem dort zu arbeiten, wo bisher gar kein Arzt anwesend war. Zwei Jahre sollen die Kubaner bleiben, jeder von ihnen hat im Schnitt 1 200 Menschen zu betreuen.

Wer in den Genuss von Barrio Adentro kommen will, ist aufgefordert mitzuarbeiten. Die partizipative Demokratie wird hier zur staatsbürgerlichen Pflicht. Die Nachbarschaft oder das Stadtviertel muss selbst für ein Behandlungszimmer, ein Wartezimmer und eine Unterkunft für den Arzt sorgen. Die Regierung stellt ihrerseits kostenlos Materialien für die Renovierung und Ausstattung zur Verfügung. Bedingung ist auch die Gründung eines lokalen Gesundheitskomitees, das die Ärzte bei der Präventionsarbeit begleitet.

Mit Prävention sind Kampagnen gemeint, die begleitet von revolutionären Parolen zur sportlichen Betätigung, zur Hygiene, zur gesunden Ernährung und zur »verantwortlichen Familienplanung« auffordern. Was das bedeuten kann, bringt die Ärztin Maria Elena Alfonso aus Havanna auf den Punkt: »Wenn eine schwangere Frau kommt, die kein Geld und schon vier Kinder hat, dann empfehle ich ihr die Sterilisation.« Kommunitäre Gesundheit wird dieses Konzept in Kuba genannt, Public Health heißt es im Jargon des internationalen Establishments der Armutsbekämpfung und Bevölkerungskontrolle.

Einer Umfrage vom September zufolge würden mehr als 60 Prozent der Bewohner von El Libertador Chávez bei einem Referendum im Amt bestätigen. Als Begründung führen die meisten den Erfolg von Barrio Adentro an. Die Opposition bezeichnet die Sozialprogramme deshalb als Propaganda und wirft Chávez Populismus und Wählerfang vor. Edgar Pérez gehört seit 20 Jahren einer libertären Nachbarschaftsinitiative in El Libertador an. Er hat einen pragmatischen Blick auf die Projektoffensive: »Uns gab es schon vor Chávez. Wir sind keine Chavisten, aber wir unterstützen den Präsidenten. Denn er realisiert nur das, wofür wir ihn gewählt haben: Er teilt den Reichtum des Landes mit den Armen. Und ich muss in keine Partei eintreten.«