Das Boot voll haben

Sportarten im Selbstversuch VIIIb: Schon wieder Rudern, aber diesmal aus männlicher Sicht. von daniel goldstein

Am Wochenende stand eine Familienfeier auf dem Programm. Es kann doch manchmal ziemlich schön sein, die Onkel und Tanten wiederzusehen, die Neffen und Nichten nach den neuesten Teenie-Trends zu befragen und sich nebenbei gepflegt den Bauch voll zuzuschlagen.

Wenn da nicht auch noch nebenbei so etwas wie die »Große Unterhaltung« stattfinden würde. Früher war selbst die interessant, meistens, denn die Erwachsenen tauschten politische Ansichten aus. Heute kommt die Sprache jedoch nur noch höchst selten auf solche Themen.

Denn jetzt dreht sich alles ums Rudern.

Der Rudersport an sich und als solcher bewegt die gesamte Großfamilie. Selbst Oma und Opa reden selten von etwas anderem. Angefangen hatte alles vor sechs Jahren. Meine älteste Nichte war ob ihrer Größe und ihrer entwicklungsfähigen Oberarme von einem Rudertrainer als tauglich befunden worden. Schon nach einem Jahr hatte sich ihre Mutter in eine dieser gefürchteten Sportlermamas verwandelt. Als die Nichte dann ein paar Jahre später sogar Juniorenweltmeisterin wurde, war alles zu spät. Und weil es anscheinend so langweilig war, immer nur über die eine erfolgreiche Ruderin zu sprechen, begannen auch noch ihre Schwester sowie mein einziger Cousin und seine Schwester beim gleichen Verein den Wassersport zu erlernen. Dabei hatten sie doch vorher so schöne Hobbys wie Schwimmen oder Keyboardspielen.

Wollte ich mich also bei einer Familienfeier nicht über das Rudern unterhalten, sprach ich mit meiner Schwester oder meinem jüngsten Onkel, der sonst eigentlich nicht viel zu berichten hat.

Blut ist aber doch dicker als Wasser. Das merkte selbst ich in einem kurzen schwachen Moment vor zwei Jahren. Zu meinem Sportstudium gehörte auch das Wahlpflichtfach Wassersport. Irgendwie fühlte ich mich weder zum Segeln noch zum Surfen oder Kanufahren hingezogen. Ich wählte Rudern. Immerhin, so dachte ich, würde ich nun vielleicht die familiäre Faszination nachvollziehen können. Doch weit gefehlt. Ich erlebte zwei durchgehend unangenehme Kompaktkurs-Wochen.

Schon als ich den Termin für das Seminar erfuhr, schauderte es mich. Woche zwei und drei im Oktober standen unausweichlich fest. Bei der Referatsvergabe gewann ich immerhin das Knobeln um den Vortrag zur »Geschichte des Rudersports«. Eigentlich wollte ich beim Schreiben noch was fürs Leben lernen, viel mehr, als dass es einen Gegensatz zwischen reichen Rudervereinen und Arbeitersportclubs gibt, ist dabei jedoch nicht hängen geblieben.

Irgendwann kam der Tag, an dem ich mich im Morgengrauen Richtung Wannsee aufmachen musste. Punkt acht Uhr stand ich im Bootshaus. Zu allem Überfluss war der strengste aller Sportdozenten für diesen Kurs verantwortlich, Fehlstunden waren also nicht erlaubt. In seinen Augen war das Motto für seinen nächsten Aufstand abzulesen: »Gegen das akademische Viertel!« Und so legte er fest, dass wir uns künftig »eine halbe Stunde früher treffen, um mehr vom Vormittag zu haben«. Man muss früh aufs Wasser, denn »da ist es noch ruhig«, meinte er.

Sogleich wurden die ersten Belehrungen und Verhaltensmaßregeln weitergegeben. Zwei Bootshaus-Chefs sollte es für jeden Tag geben. Sie mussten die Bootsausleihe überwachen, den anderen ins Wasser helfen und nach der Rückkehr die Boote fein säuberlich abspritzen, um sie zu reinigen.

Bei Temperaturen von geradeso ertragbaren 12 Grad Celsius ließen wir noch am ersten Tag die Einer-Sportboote das erste Mal zu Wasser. Wir hatten schließlich immer vier Stunden Zeit.

Da ging das Grauen erst richtig los. Nein, ich bin kein Draufgängertyp. Und eine einstündige höchste Muskelanspannung ist definitiv nicht mein Ding. Schon das regelgerechte Einsteigen ist eine Kunst für sich. Schließlich darf das Boot weder vom Steg wegtreiben, noch darf man die Skulls falsch herum einsetzen. Meine größte Angst war jedoch, ins Wasser zu fallen. Als ich nach einer Viertelstunde endlich im Boot saß – zwölf Minuten verbrachte ich damit zu überlegen, ob ich es wirklich riskieren wollte –, stieß ich mich ab und glitt balancierend aufs Wasser hinaus.

Wo das Zittern erst richtig begann. Die kleinste Erschütterung brachte das Boot ins Schwanken. Wie in einer Nussschale trieb ich hinaus auf den kleinen Wannsee. An Bewegung war nicht zu denken. Geschweige denn an Fortbewegung. Nach 20 Minuten hatte ich mich endlich überwunden und probierte einen Ruderschlag. Ähnlich erging es mir die nächsten drei Tage, ehe ich ganz langsam auch vorwärts bzw. rückwärts kam, man sitzt ja entgegen der Fahrtrichtung. Eine gute Dreiviertelstunde brauchte ich, von dem einen Steg, dem Uni-Bootshaus, zum etwa zwei Kilometer weit entfernten anderen Bootshaus, dem des Schüler-Ruder-Verbandes.

An jenem Steg übte ich dann das Anlegen und das Wenden. Zurück musste ich natürlich auch. Das dauerte ebenfalls eine schlappe Dreiviertelstunde.

Als unsere Vierzehnergruppe etwas fortgeschrittener war, ging es auf Tagesfahrt. Ein besonderes Highlight für den Dozenten. Darauf freute er sich seit dem ersten Treffen. Einmal hatten wir geübt und schon mussten wir mit einem Achter plus Steuermann einen ganzen Tag lang durch Berliner Gewässer rudern. Bei diesem großen Boot ist nicht das Gleichgewichthalten kompliziert, vielmehr hatte sich der Allgewaltige eine neue Qual ausgedacht. Der Wechsel auf den Steuermannplatz mitten auf dem Wasser erfordert höchste Konzentration und Balancefähigkeit. Jeder Fehler wäre sofort mit einem kalten Bad bestraft worden. Einmal auf dem Steuermannsposten angekommen, kann man erstens seine geschundenen Hände pflegen, muss aber zweitens Befehle geben wie ein Reservegeneral.

Das geht schon beim Zuwasserlassen des Bootes los: »Mannschaft ans Boot, hebt, auf!« Schön ist auch die Einsteigeprozedur: »Fertig zum Einsteigen, steigt, ein!« Viel schwieriger ist es aber, sich zu merken, was bei den einzelnen Befehlen zu tun ist. Bei »steigt« muss das Team zum Beispiel mit der Hand zur Wasserseite beide Griffenden der Skulls gegeneinandergestellt greifen und dann mit dem Fuß zur Wasserseite noch ohne Belastung auf das Einsteigebrett treten. Bei »ein« nehmen die Ruderer den anderen Fuß vom Steg ins Boot zum Stemmbrett und setzen sich auf den Rollsitz. Beim gemeinsamen Einsteigen der Mannschaft wird dem »Stegbein« das Boot vom Steg abgestoßen. Alles klar?!

Zwei Wochen, zwei wunde Hände und ein überstrapaziertes Gleichgewichtsorgan später durfte ich erst eine Klausur schreiben und dann auch noch mehrere praktische Prüfungen zum erfolgreichen Bestehen des Kompaktseminars hinter mich bringen. Ich ruderte die 500 Meter relativ schnell und erstmalig sogar fast gerade. Na ja, zwei bis drei Meter Toleranz nach links und rechts werden schon zugestanden. Ich erhielt nicht nur den benötigten Schein, sondern auch einen Besucherausweis mit Genehmigung zur Ruderbootausleihe im Uni-Ruderzentrum. Ich konnte es kaum glauben. Wo ist dieser Ausweis eigentlich? Ich habe ihn seit diesem Tag nicht mehr gesehen.

Rudern als Sport kann allerdings nicht aus meinem Gedächtnis verschwinden. Schließlich werde ich spätestens bei der nächsten Familienfeier daran erinnert. Wenn die stolzen Tanten und Onkel über die Erfolge ihrer Sprösslinge berichten. Vielleicht sollten sie es selbst auch einmal probieren, um zu bemerken, wie faszinierend nervtötend dieser Sport ist.