Stress auf dem Kongress

Der Kommunismus passt in ein schmales Suhrkamp-Bändchen. Beobachtungen auf dem Frankfurter Symposium »Indeterminate«. von carlos kunze und jesse björn buckler (Fotos)

Mühsam stemme ich meine Augenlider hoch. Halb vier zeigt der Wecker an. Wie spät ist es denn wirklich? Puh, halb neun. Und um zehn fährt der Bus nach Frankfurt, zur großen Theorietankstelle, zum Kongress »Indeterminate! Kommunismus«. Das schaffe ich locker. Ein Hoch auf den alten Biorhythmus. Auf den ist Verlass. Kaffee, Dusche, und los.

In der U-Bahn flimmert ein Spot gegen das Schwarzfahren über die Bildschirme, einmal, zweimal: Professionelle Kontrollettis, glückliche Fahrscheinbesitzer. Beim dritten Mal siegt die Realität über die Fiktion. »Die Fahrscheine, bitte!« Kopfgeld für die vier Wegelagerer auf meine Kosten? Nix da. Das ökologisch wertvolle, weil recycelte Second-Hand-Ticket stellt sie zufrieden. Umsteigen in den Bus. Der gurkt an der TU vorbei. »Streik!« schreit ein Transparent. Ein anderes: »Arme Uni, arme Zukunft. Die Uni ist tot, es lebe die Uni«. Huiuiui, das fetzt aber!

Endlich angekommen. Campus der Frankfurter Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität. Plakate: »Theoristen« – mit dem Konterfei von Marx, Debord und Krahl beispielsweise. Schlange vor dem Café KOZ. Anmelden. Ordnung muss sein. Am Pressestand akkreditiert sich vor mir einer von der FAZ. Klar, Kommunismus hat die immer schon extrem interessiert. Vor allem in ideologisierter kultureller Schwundform: »Die Kommunisten kommen. Demnächst im Mousonturm: Internationaler Kulturkongreß über die Aktualität einer Ideologie«, hieß es am 18. Oktober im FAZ-Feuilleton. Als wüssten sie nicht genau, dass Marx eine Kritik der Ideologie schrieb.

Im ersten Stock sind die üblichen Bücherstände aufgebaut. Und es gibt einen Raum für die Referenten bzw. ReferentInnen. Ist wichtig hier. Es gab nämlich eine Absage von einer Referentin, Frau Gayatri Chakravorty Spivak aus New York hat storniert, heißt es auf der Eröffnungsveranstaltung, aus inhaltlichem Grund: Der Kongress sei zu sehr der hegemonialen Repräsentation in männlicher Form verhaftet. Also: null Bock, die Quotenfrau zu spielen. Beim Überfliegen des Veranstaltungskalenders leuchtet mir das nicht richtig ein. Das Verhältnis von Männern und Frauen scheint mir bei etwa 50:50 zu liegen.

Die einladenden Gruppen stellen ihre Überlegungen und Differenzen dar. Die Frankfurter Basisgruppe plädiert energisch für einen pluralen Kommunismus als Zweck an sich. Niemand hat nämlich einen privilegierten Zugang zur Wahrheit, und weil man keine terroristische Revolution anleiern möchte, muss man grundsätzlich die Mehrheit gewinnen: Das ist die »Demokratie im Ankommen«, wie schon Derrida sagte. Beifall. Die Düsseldorfer Basisgruppe definiert Kommunismus als »Ende der Geschichte«, als Einzug ins gelobte Land. Dabei hat der Dekonstruktivismus schon die Subjektkonstitution einer harschen Kritik unterzogen. Indeterminate! Das muss man als Einladung zur Offenheit und Unentscheidbarkeit begreifen. Klatschklatsch. Die Berliner Gruppe konstatiert, dass was fehlt auf dem Kongress: die Geschichte. Keine von den Nazis Verfolgte, keine Kommis, die selbstkritisch reflektieren usw. Kommunismus als Gedankenspiel schafft es bis ins bürgerliche Feuilleton, einem Kommunismus ohne Bestimmung sei der kritische Gehalt entzogen. An dem Marxschen Imperativ festzuhalten, »alle Verhältnisse umzustürzen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes« usw. ist, sei kein Heilsversprechen, sondern Kampf um Kommunismus. Beifall.

Jetzt schlägt die Stunde der Promis. Zuerst Slavoj Zizek, der sich, wie es im Kongressreader heißt, in den letzten 25 Jahren an über 550 internationalen Symposien beteiligt hat. Dann hat er ja Übung. Zizek spielt das enfant terrible, rackert hinterm Mikro, fuchtelt rum, schwitzt, agitiert. Nach 1989, dem Ende der Utopie, hat der 11. September das Ende des Endes der Geschichte eingeläutet, sagt er. Die kapitalistische Utopie hat eine neue Logik: neue Produkte – Bier ohne Alk, Kaffee ohne Koffein, Krieg ohne Tote – als ihr eigenes Counteractive. Das hätten Deleuze und Guattari nicht gecheckt. Die wären bei der »normalen Subjektivität« stehen geblieben und könnten sich nicht vorstellen, dass auch Yuppies ihr Werk heute goutieren würden, weil sie der neuen Subjektivität verhaftet seien, die der Kapitalismus fordert.

Man muss den Kapitalismus nämlich da angreifen, wo er stark ist. In einem gewissen Sinne wie Sendero Luminoso, der UN-Berater und US-amerikanische Agrarexperten umgelegt hat, wenn er ein Dorf einnahm, und nicht nur Bullen und Militärs. Einen klaren Trennungsstrich zwischen sich und dem Feind ziehen – das ist sein Vorschlag. Rums, der Multitude noch eine drübergebraten. Die Multitude gebe es innerhalb wie außerhalb des Systems – Begriff also unbrauchbar. Das wahre Dilemma heute: Entweder innerhalb der liberalen Demokratie stehen bleiben, die marginalisierten Stimmen immer weiter integrieren, das hat mit Kommunismus nichts zu tun. Oder einfach den Schritt aus der liberalen Demokratie raus machen.

Dann wickelt er noch mal Lenins Mumie auf, und zack, ist Isabelle Graw dran. Sie widmet sich der Appropriation Art (AA) aus den achtziger Jahren: Aneignung als Schlüsselbegriff, hier strategische Aneignung fremder Bildlichkeit. Das ergab zwar eine kritische Pose gegen Autorschaft, Originalität usw., funktionierte aber nur auf dem Hintergrund des Marxschen Enteignungsbegriffs. Tatsächlich aber wurde, was bei Marx abgeschafft gehört, hier verewigt: z.B. der Tauschwert, hier im Kunstwerk manifestiert.

Zigarettenpause: Wie soll man zusammenbringen, was auf dem Podium an inkompatiblen »Ansätzen« und »Theorien« aufeinanderprallt? Draußen vor der Tür treffe ich einen Bekannten, der sich Ähnliches fragt. Das Problem hier ist, meint er, dass die Bundeskulturstiftung sich traut, den Kongress zu sponsern. Klar, Kulturalisierung des Kommunismus. Aber die poplinken Neunziger sind vorbei, die Zeiten werden härter: Wenn am Ende des Kongresses die Poplinke zu Grabe getragen wird, springe er begeistert gleich mit in die Kiste.

Wieder rein zu den Promis. Micha Brumlik stellt Fragen, ohne deren Beantwortung der Kommunismus nicht zu machen sei. Wie lässt sich ein System der Bedürfnisse und der Bedarfsdeckung unmittelbar durch demokratische Formen steuern, so dass kein Mensch ein verlassenes, ein verächtliches usw. Wesen sei. Und wie soll das auf Weltebene in einem einheitlichen politischen System funktionieren? Neben den ungelösten Problemen der Vermittlung von kommunistischen Freiheits-, Würde-, Gerechtigkeitsversprechen sei der Kommunismus bislang nicht durch das angekündigte Absterben des Staates aufgefallen, vielmehr habe er mehr Staat erfordert als das liberale System. Auch deshalb sei Revolution nicht die Lösung, sondern Reformismus, also die Sozialdemokratie, wenngleich nicht die im Sinne Schröders oder Blairs.

Einspruch, Zizek wieder: Der Kapitalismus unterminiert heute seine eigenen normativen Versprechen – was vor zehn, 15 Jahren undenkbar gewesen sei, ist heute Realität: Faschisten in Österreich und Italien in der Regierung, in den USA Diskussion über Folter; deshalb sei der Schritt raus unerlässlich. Moishe Postone, der Historiker aus Chicago, meldet sich zu Wort. Brumliks Auffassung von Marktmechanismen ist naiv, die beruhten mittlerweile oft auf bewussten Entscheidungen. Und politische Kontrolle über den sich hinter dem Rücken der Akteure vollziehenden Akkumulationsprozess ist absurd. Die richtige Frage: Wie kann ein solches System für eine demokratische Kontrolle geöffnet werden? Isabelle Graw streitet sich noch ein bisschen mit Zizek über Identitätspolitik, Klasse, Rasse und Geschlecht – und Ende der Vorstellung.

Pennplätze gibt es unter anderem im Turm der Uni. Das ist ein hässliches Hochhaus, das zum Teil besetzt ist. Die Frankfurter Studis machen nämlich mobil, gegen Studiengebühren vor allem. Und Landesvater Roland Koch will am Samstag das Senckenbergmuseum einweihen, es wird nach der Restaurierung wiedereröffnet. Da wollen ihm die Studis in die Suppe spucken und eine Demo machen. Aber vorher schau ich noch auf das Forum »Ökonomie der Politischen Kritik: Kommunismus und radikale Demokratie«. Bin ein wenig spät dran. Chantal Mouffe, die dem Reader zufolge »an zahlreichen Universitäten in Europa, Nord- und Lateinamerika« lehrt, erzählt, warum man nicht alle Probleme auf den Kapitalismus reduzieren dürfe und warum radikale Subjektivität, Negativität in nicht dialektischer Weise, Antagonismus, Artikulation und Hegemonie irgendwie in radikale Demokratie münden müssen. Eine weitere subversive Kathederdemokratin sozusagen.

Ich schaue erst mal auf die Straße. Vielleicht spukt da eher das Gespenst des Kommunismus rum. Vor dem Senckenbergschen Dinosauriermuseum sind etwa 300 Leute und ein GEW-Lautsprecherwagen mit Plakaten aufgezogen: »Stoppt den hessischen Kahlschlag«. Warum nur den hessischen? »Sozial und gerecht, das war einmal – Dino Koch frisst alles kahl« und »Wir sind das Volk«, trötet es aus den Lautsprechern. Ich flüchte zum Hinterausgang des Museums. Da sind zwei, drei Dutzend Leute, nach einiger Zeit kommt auch ein Wasserwerfer. Was soll das denn? Um die Ecke sind drei Luxuslimousinen umzingelt, sagt ein Typ. Aha, der Wasserwerfer als tückisches Ablenkungsmanöver der Ordnungshüter! »Machen Sie die Straße frei«: Die Flics haben sich in kürzester Zeit erstaunlich vermehrt. Sie versuchen, die eingekesselten Limousinen zu befreien. Sie drängeln, treten, schubsen, schieben, aber das ändert nichts. »Randale, Bambule, Frankfurter Schule«, rufen ein paar Demonstranten.

Am Abend geht es auf dem Kongress um »Quantität und Qualität des gegenwärtigen Kapitalismus«. Ich treffe einen alten Bekannten aus Hanau. Ist nicht schlecht, meint er. Auf der Demo heute mittag sind Leute vom Kommi-Kongress, protestierende Studis und Teile der Rest-Szene zusammengekommen. Das seien normalerweise strikt getrennte Scenes. Tja, bescheiden ist man geworden! Was wird referiert? Marion von Osten nimmt aus feministischer Sicht die »allseitig reduzierte Persönlichkeit« aufs Korn, deren Wunsch nach Veränderung in immaterielle und affektive Arbeit transformiert worden und in scheinbar freiwillige Unterwerfung unter die Verhältnisse gemündet sei. Katja Diefenbach holzt im Freistil gegen Messianismus, Brumlik und Zizek, erinnert an 1968 als jüngstes kommunistisches Projekt.

Dann referiert Postone über »Geschichte, Hilflosigkeit und Massenmobilisierung«, insbesondere im Hinblick auf US- und NoGlobal-Linke. Die hätte sich seit dem 11. September und dem Irakkrieg in einem Dilemma befunden, zwischen der imperialen US-Macht und einem zutiefst reaktionären bzw. quasi faschistischen Gegner, nämlich den Islamisten bzw. Ba’ath-Leuten. In der Interpretation des 11. September als Reaktion auf US-Politik insbesondere im Nahen Osten habe sie sich auf die USA als einzigen politischen Akteur fixiert und den modernen Antisemitismus mit seinem populistischen und antihegemonischen Charakter übersehen. Der habe sich mit dem beschleunigten Niedergang der arabischen Welt in den letzten 20 Jahren als fetischisierte Form eines reaktionären Antikapitalismus verbreitet und sei nicht als Raktion auf die konkrete Politik der USA zu begreifen.

Joachim Hirsch meint, man müsse von den Möglichkeiten, die die heutige Gesellschaft biete, ausgehen: Grundsätzlich kann die hiesige Gesellschaft alle ohne Arbeit unterhalten; der Sozialstaat ist nicht verteidigenswert, man müsse in andere Richtungen denken; z.B. in die einer sozialen Infrastruktur für alle. Nadja Rakowitz bringt die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie gegen Multitude, Hirsch, Brumlik, Marion von Osten und NoGlobals in Anschlag: Die Lohnarbeit sei nicht am Ende, die Arbeiterbewegung ebensowenig. Umwälzung der Totalität der politischen Ökonomie ohne die Produzenten – das geht nicht. Deshalb stellt sich die Frage nach Klasse/Proletariat neu, sagt sie, auch wenn das auf dem Kongress nicht Thema war.

Ein Resümee? Vielleicht so: Wenn der Gedanke so unaufhaltsam zur Wirklichkeit drängt wie Deutschland zum Kommunismus, dann kommt ein Suhrkamp-Bändchen dabei heraus. In dem wird man dann im Frühjahr die Kongressbeiträge nachlesen können. Vielleicht schafft das sogar Arbeitsplätze für eine neue Generation linker Akademiker, die sich der ehrenvollen Aufgabe widmen, die dort versammelten »Ansätze« miteinander zu verbinden.