Hauptsache Leben

Es ist Weltaidstag. von silke kettelhake

Sechzehn Jahre lang ist fast alles gut gegangen. Sechzehn Jahre positiv, ohne Medikamente zu schlucken. Doch seit einem halben Jahr lässt der HIV-bedingte Krebs Maria* nicht mehr los. Trotz Chemotherapie, Glatze, Schmerz und Morphium. Auf dem Gang im Berliner Auguste-Viktoria-Krankenhaus, Deutschlands Vorzeigekrankenhaus hinsichtlich der Pflege von Aidskranken, herrscht Hektik. Keine betriebsbedingte Aufregung, nein, ein Sat.1-Fernsehteam verbreitet Unruhe. Der Weltaidstag am 1. Dezember steht wieder an. Die blonde Jessica Stockmann, seit einigen Monaten Paradepferdchen der Aidshilfe, steht missmutig mit ihrem Kamerateam auf dem Flur. Gerne hätte sich die Schauspielerin und Moderatorin zusammen mit der Glatzenträgerin auf einem Foto gesehen, doch Maria hat keine Lust auf Fragen von einer Medienvertreterin, deren Gesichtsausdruck zu sagen scheint: »Ich will weg von den kranken Menschen!« »Sie ist noch nicht einmal in eins der Zimmer gegangen«, sagt Maria. »Frau Stockmann interessiert sich doch gar nicht wirklich dafür, wie es jemandem geht!«

Es gab Zeiten, da wollte Jessica Stockmann in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mit dem Thema Aids in Verbindung gebracht werden: Die Schauspielerin war mit dem 1991 verstorbenen Tennisspieler Michael Westphal befreundet, dessen Aids-Infektion erst zehn Jahre nach seinem Tod bestätigt wurde. Westphal und Stockmann hatten aus Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung stets nur von einer »Viruserkrankung« gesprochen. Westphal habe sie gebeten, auch nach seinem Tod zehn Jahre lang über seine wahre Krankheit zu schweigen, hatte Jessica Stockmann sehr viel später erklärt. Mit ihrem inzwischen geschiedenen Ehemann, dem Tennisprofi Michael Stich, engagierte sie sich dann in den neunziger Jahren in einer Stiftung für aidskranke Kinder.

Barebacking

Einerseits nerven Thomas Erben von der Berliner Aidshilfe die Galas und Charity-Veranstaltungen um den 1. Dezember wie jedes Jahr: Hier würden die Betroffenen doch kaum erwähnt. Andererseits schreie die steigende Zahl der Neuinfektionen geradezu nach Öffentlichkeit. Der sportliche Mann mit den stahlblauen Augen beschreibt sich als »schwer planungsfähig«. Jeder Tag ist anders, er lebt ganz bewusst. Das hat er durch den Tod vieler seiner Freunde gelernt. Viele hat er durch die verschiedenen Phasen der tödlichen Krankheit begleitet. Ihm ist es wichtig, den Patienten selbstverantwortlich entscheiden zu lassen. So plädiert er für eine möglichst frühe Patientenverfügung: »Nicht warten, bis die Leute im Koma liegen oder so krank sind, dass sie nicht mehr klar denken können.« Thomas Erben ist einer von 16 hauptamtlich bei der Aidshilfe Beschäftigten, die ganz genau die Trends verfolgen – bevor die Zahlen offiziell sind: »In der Schwulenszene bahnt sich eine Katastrophe an. Barebacking ist eine tödliche Modeerscheinung.« Kondome sind out.

Erben kann es kaum fassen, eine ganze Clique hat sich innerhalb kurzer Zeit neu infiziert: »In diesem Freundeskreis konnte man beobachten, wie das Virus weitergetragen wurde. Siebzehn Jungs sind betroffen, von 18 bis 28 Jahren. Mich kann’s nicht treffen, sagt sich die junge Generation. Meistens sterben doch die Männer zwischen 30 und 50 Jahren.« Die zunehmende Sorglosigkeit sei erschütternd. Und bei der mittleren Generation der 30- bis 40jährigen Schwulen herrsche ein Burn-Out-Effekt: »Viele glauben, sie haben die wilden Zeiten hinter sich, man ist nicht mehr so attraktiv. Wenn ich mich jetzt infiziere, dann ist das nicht mehr so schlimm, dann lebe ich ja noch zwanzig Jahre mit der Medikamentenkombination.«

Sich selbst helfen

Maria kann an manchen Tagen nicht aufhören, sich zu übergeben, seit sie nun in der fünften Woche die Medikamente schluckt, an die fünfzehn Stück auf einmal. Heulen hilft nur manchmal.

Die Zahl der infizierten Frauen steigt. Seit 1988 hat sich ihr prozentualer Anteil fast verdoppelt. 2002 stellten bei zirka 2 000 Neuinfektionen ein Viertel die Frauen. Maria blickt in den trüben Novembernachmittag: »Ende der Achtziger habe ich ein ausschweifendes Leben gelebt, Drogen konsumiert und keinen safen Sex gehabt. Beim Hausarzt hab’ ich mich einfach mal testen lassen. Das Schlimmste waren die fünf Minuten alleine auf dem Weg nach Hause. Da explodierte alles im Kopf. Zu Hause, in der WG, hab’ ich das Ergebnis sofort auf den Tisch gepackt. Ab dem Moment war es okay, von dem Moment an bin ich mit der Krankheit sehr offensiv umgegangen. Offen darüber zu reden, das hat mir sehr geholfen. Wenn man plötzlich weiß, dass das Leben limitiert ist, stehen viele Dinge infrage: Für mich zählt allein, was ein Mensch ist. Materielles Denken oder gesellschaftliche Ansprüche sind dann nicht mehr wichtig.«

Der Panikmache in den Medien mit »Aids ist gleich Tod« in den neunziger Jahren ist sie offensiv begegnet: »Trotzdem sickert das ins Unterbewusstsein, und das ist das Letzte, was ich brauchen kann. Ich hatte immer das Gefühl, das stimmt nicht, ich gehe irgendwann aufs Klo und spül’ den Virus runter.« Wie es weitergehen soll, weiß sie nicht. Hauptsache leben. Für ein paar Tage durfte sie das Krankenhaus verlassen, um dann doch fast täglich wiederkommen zu müssen, Blutwerte prüfen lassen und die nächste Packung Chemotherapie abholen. Doch ihre grünen Augen strahlen unter der rasierten Glatze. Manchmal träumt sie nachts von ihren langen braunen Haaren. Der Kampf geht weiter, gegen die Krankheit, mit den Behörden, mit der Krankenkasse. Es fällt ihr immer schwerer, auf Leistungen und Zuwendungen zu bestehen.

Viele suchen in dieser Situation Solidarität in Selbsthilfegruppen. Das hat Maria auch ausprobiert: »Bei vielen treibt mich das die Wände hoch, wenn ich sehe, wie sich die Leute selbst aufgeben. Das bringt mich zur Verzweiflung. Für mich ist die einzige Chance, damit zu leben, der offene Umgang mit der Krankheit. Eine Unterstützung war für mich die alternative Aidshilfe, bei Heal e.V. Eine Zeit lang hat mir das sehr gut getan, denn ich fühle mich schon oft sehr alleine.«

Die Internetseite von Heal e.V. ähnelt nicht nur gestalterisch einem Präzedenzfall der Verschwörungstheorien. Dort heißt es: »Die konkrete Erfahrung in der Arbeit mit Betroffenen führte jedoch zu einer grundsätzlichen Kritik an der Annahme, ›Aids‹ werde von einem Virus namens HIV verursacht.« Die Interessengemeinschaft spricht von unsicheren Tests und davon, dass die Krankheit heilbar ist. Thomas Erben: »Durch die einseitige Information hat dieser Verein schon ein paar Leute auf dem Gewissen. Da wird alles verteufelt. Sie halten Menschen davon ab, auf medizinische Hilfe zurückzugreifen.«

Aids-Cocktail

Thomas Erben bemängelt die Milchmädchenrechnung des Staates und der Krankenkassen: »Jede einzige Infektion, die verhindert werden kann, spart ein bis eineinhalb Millionen Euro. Bei diesen Kosten plädiere ich doch lieber für Prävention. Die Spendenlage ist dramatisch. Sind vor drei Jahren noch 700 Menschen ehrenamtlich auf den Straßen sammeln gegangen, so sind es in diesem Jahr erst 182.«

Maria würde gerne eine der zwanzig Veranstaltungen gegen Aids in den Berliner Clubs besuchen. Und sich vielleicht auch das Clubgetränk mit dem etwas makabren Namen »Aidscocktail« bestellen. »Ich kenne eine Menge Leute, die nach vielen Jahren die Infektion immer noch verbergen. Damit erschwert man seinen Mitmenschen doch nur den Umgang mit der Krankheit: je offener, desto besser. Nur so kann auch in der Gesellschaft das Bewusstsein geschärft werden: der Blick vom Sterben weg hin zu mehr Lebensbejahung.«

* Name von der Redaktion geändert