Lektionen vom Sheikh

Mit deutschen Vermittlern verhandeln die israelische Regierung und die libanesische Hizbollah über einen Gefangenenaustausch. von alfred hackensberger, beirut

Die Explosionen waren in den umliegenden Dörfern deutlich zu hören, doch die israelischen Soldaten, die Anfang der vergangenen Woche im Gebiet der vom Libanon beanspruchten Shebaa-Farmen schossen, hielten nur ein Manöver ab. Die Hizbollah, die dort immer wieder israelische Posten angreift, ließ sich nicht blicken. Ihr Generalsekretär Sheikh Hassan Nasrallah verhandelte in Beirut mit einem Vertreter des deutschen Bundeskanzleramts, um die letzten Details eines Gefangenenaustauschs mit Israel zu besprechen.

Die seit über einem Jahr laufenden Verhandlungen scheinen dem Ende entgegenzugehen. Über den Inhalt der Gespräche zwischen dem deutschen Vermittler und dem Generalsekretär wurde wie üblich Stillschweigen gewahrt, »um bessere Bedingungen für ein positives Endergebnis zu gewährleisten«, wie die Hizbollah in einer Pressemitteilung erklärte. Schließlich habe man sich getroffen, um »eine Lösung der ausstehenden Probleme zu finden«.

Verhandelt wird darüber, welche Gefangenen die Hizbollah für den israelischen Ex-Offizier und Geschäftsmann Elhanan Tannenbaum sowie die Übergabe der Leichen von drei israelischen Soldaten erhält. Insgesamt sollen rund 400 Palästinenser, 19 Libanesen und einige Dutzend Gefangene aus Syrien, Marokko, Sudan und Libyen freigelassen werden. Deutschen Presseberichten zufolge fordert Nasrallah auch die Freilassung des Deutschen Steven Smyrek, der wegen der Planung eines Anschlags im Auftrag der Hizbollah in Israel inhaftiert ist, und des Iraners Kazem Darabi, der 1997 wegen des Mordes an vier kurdischen Oppositionellen in Berlin zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Smyreks Freilassung wäre für die israelische Regierung unproblematisch, und Premierminister Ariel Sharon hat auch zugestimmt, den israelischen Navigator Ron Arad nicht in den Austausch einzubeziehen. Arads Flugzeug wurde 1986 auf libanesischem Gebiet abgeschossen, er wird in Gefangenschaft im Iran vermutet. Die israelische Regierung will zu seiner Freilassung gesonderte Verhandlungen führen, um seine Familie zu beruhigen, die sich öffentlich gegen den bevorstehenden Gefangenenaustausch stellte.

Strittig ist noch die Freilassung des Libanesen Samir Qantar, der 1979 in der israelischen Küstenstadt Nahariya an einer Aktion beteiligt war, bei der fünf Israelis, darunter auch ein Kind, getötet wurden. Er wurde zu insgesamt 542 Jahren Gefängnis verurteilt. »Qantar freizulassen«, sagte der israelische Außenminister Silvan Shalom, »könnte dazu führen, dass auch andere Länder die Freilassung von Gefangenen fordern, die Blut an ihren Händen haben. Der Premierminister hat es deutlich gesagt: Qantar wird nicht freigelassen.« Dagegen will die Hizbollah den Gefangenenaustausch komplett platzen lassen, wenn Quantar nicht dazugehört. »Wenn nur ein Libanese ausgeschlossen wird, gibt es keinen Austausch«, erklärte Nasrallah, fügte aber hinzu, dass er bereit sei, die Verhandlungen fortzusetzen.

In Israel schlägt die Debatte über den Gefangenenaustausch seit Wochen hohe publizistische Wellen. Nur mit Mühe konnte Sharon seine Minister überzeugen. Am 9. November stimmte das Kabinett mit einer Stimme Mehrheit für den Austausch, doch manche Kommentatoren stellen der Regierung keine guten Noten aus.

»In Sachen psychologischer Kriegsführung hat die Hizbollah Israel geschlagen«, kommentierte Zeev Schiff in der israelischen Tageszeitung Ha’aretz. »Noch nie war Israel in einer so deprimierenden Situation. Israel ist in die Falle der Hizbollah gegangen.« Die Organisation habe den Israelis eine Lektion erteilt: »Sie schaffte es, dass sich Israelis über die ›Gefangenenaffäre‹ zerstritten haben. Darüber hinaus drohte sie, mehr Gefangene zu kidnappen, kletterte einfach über den israelischen Grenzzaun, legte bewusst leicht zu entdeckende Landminen und beschoss israelische Verteidigungskräfte bei den Shebaa-Farmen.« So eine Provokation würde sonst kein arabisches Land wagen. »Und Israel schweigt dazu.«

Guy Bentwich von der Zeitung Yediot Achronot beklagt sogar, dass die brillanteste Führungspersönlichkeit nicht auf israelischer Seite zu finden sei. »Er ist im Norden von uns, in Beirut. Sein Name ist Sheikh Hassan Nasrallah, und er ist darauf spezialisiert, uns Lektionen zu geben.«

Die psychologische Kriegsführung der Hizbollah hat nur deshalb Erfolg, »weil ihre Drohungen bewiesenermaßen Substanz haben«, bestätigt Amal Saad-Ghoryaeb, Assistenzprofessorin an der Fakultät für Politik der Lebanese American University in Beirut. »Es ist die tatsächliche Drohung mit Gewalt.« Die Hizbollah habe ihren Feind sehr gut studiert und analysiert, erklärt die Politikwissenschaftlerin: »Die Organisation hat eine größere Distanz zu den Israelis als die Palästinenser beispielsweise und ist daher besser in der Lage, ihre Strategie zu planen.«

Tatsächlich enthält sich die schiitisch-islamistische Hizbollah mörderischer »Tit-for-Tat«-Anschläge, wie sie etwa die Hamas durchführt. Sie beschränkt sich auf taktisch durchdachte Operationen ausschließlich gegen militärische Ziele. Mitte November, kurz nach den Attentaten in Saudi-Arabien, betonte der libanesische Ayatollah Mohammed Hussein Fadlallah, ein spiritueller Führer der Gruppe, dass die »muslimische Religion keine Selbstmordattentate« rechtfertigt.

In ihrer clever lancierten Propaganda bedient sich die Hizbollah moderner Kommunikationstechnologie. Neben ihren 52 Webseiten produzierte sie ein Computerspiel, das den »Widerstand gegen die israelische Okkupation« feiert, und unterhält ihren eigenen Fernsehsender, TV-Manar, der weltweit über Satellit zu empfangen ist. Im ersten Jahr der al-Aqsa-Intifada strahlte sie auf Russisch und Hebräisch Warnungen aus, wie gefährlich es sei, in Israel zu leben.

Am Freitag drohte Nasrallah, im Falle eines Angriffs auf den Libanon oder Syrien werde man »weit in israelisches Gebiet hinein« angreifen. Die Eskalation der Selbstmordanschläge aber hat die Hizbollah bislang nicht nachvollzogen. Das erleichterte es der israelischen Regierung, offene Verhandlungen mit den bisher als »blutrünstige Terroristen« gebrandmarkten Islamisten zu führen. Bereits diese quasi offizielle Anerkennung ist ein großer Erfolg für die Hizbollah. Sie hat sich in den letzten 15 Jahren zu einem wichtigen Faktor im Nahost-Konflikt und in der regionalen Machtpolitik entwickelt. Sollte der Gefangenenaustausch tatsächlich zustande kommen, würde er ihre Position weiter stärken.