Mörder und Provokateure

Die Anschläge in Istanbul überschatteten den Staatsbesuch von George W. Bush in Großbritannien. Die Gegendemonstration genoss weniger Aufmerksamkeit. von matthias becker, london

Hat jemand noch eine amerikanische Flagge zum Verbrennen? Es wird langsam kalt.« Der jugendliche Demonstrant vor dem Buckingham Palace, wo der amerikanische Präsident gerade mit der Königin zu Abend isst, scherzt nur halb. Tatsächlich gehen während des Staatsbesuchs zahllose blau-weiß-rote Fahnen in Flammen auf.

Für die britische Friedensbewegung war der Besuch des amerikanischen Präsidenten George W. Bush in der vergangenen Woche eine Provokation. Die Meinungen in der britischen Bevölkerung über den Irakkrieg und die Besetzung des Landes sind tief gespalten.

Welche Reaktionen lösen vor diesem Hintergrund die Anschläge auf die britische Botschaft und das Bankgebäude in Istanbul aus? Die Attentate machen der Bevölkerung klar, dass auch sie nun ein mögliches Angriffsziel im so genannten Krieg gegen den Terror ist. Die Bedrohung durch Terroristen, die vor dem Krieg trotz gewaltiger Propagandaanstrengungen der Regierung noch belacht wurde, scheint real geworden zu sein. Fassungslos lesen die Pendler am Freitagmorgen im Zug die Schlagzeile des Tages: »Briten bei einem Anschlag in der Türkei getötet!«

Die sich daran anschließende Frage stellt die Daily Mail am gleichen Tag: »Kommt Großbritannien als nächstes dran?« Und der linksliberale Guardian kommentiert: »Unsere seltsame Immunität ist vorbei. Jetzt sind wir an vorderster Front.« Während israelische Touristen in Kenia, UN-Mitarbeiter in Bagdad oder US-amerikanische Einrichtungen in Saudi-Arabien von Anschlägen betroffen waren, blieben britische Einrichtungen bislang verschont.

»Halten Sie immer Batterien, Taschenlampen und Fertignahrung bereit. Sie sollten wissen, wo man in ihrer Wohnung Gas, Strom und Wasser abdrehen kann«, rät die Website des britischen Innenministeriums. Die Hinweise sind zwar nicht neu, aber nach den Anschlägen auf die britischen Einrichtungen in Istanbul gewinnen sie an Überzeugungskraft. Der britische Geheimdienstexperte und Chefredakteur des Fachmagazins Jane’s Intelligence Digest, Alex Standish, meint: »Ein Anschlag auf London ist nur eine Frage der Zeit.«

Für weitere Beunruhigung sorgte eine Nachricht in der Financial Times vom vergangenen Samstag. Die Zeitung berichtete, dass eine obskure Firma im Sommer eine halbe Tonne giftiger Chemikalien gekauft hat. Nachforschungen ergaben, dass es sich bei dem Unternehmen um eine Briefkastenfirma handelt, die von Islamisten finanziert worden sei. Möglicherweise hätten die Käufer einen größeren Giftanschlag geplant.

Dabei waren statt der Meldungen von den Anschlägen und der Terrorwarnungen ganz andere Schlagzeilen vorgesehen, nämlich: »Riesige Friedensdemonstration gegen den Besuch Bushs.« Die Kundgebung fand zwar statt und war mit etwa 150 000 Teilnehmern überraschend gut besucht, wurde aber von den Ereignissen in der Türkei in den Hintergrund gedrängt. Die Demonstration, angeführt vom amerikanischen Vietnamkriegsveteranen Ron Kovic, führte stundenlang durch London und verlief weitgehend friedlich. 31 Personen wurden festgenommen.

Trotz des wachsenden Gefühls von Bedrohung haben die Anschläge in Istanbul bisher keinen nennenswerten Meinungsumschwung bei den Briten bewirkt. Vielmehr sehen sich beide Lager in ihrer Haltung bestätigt, nur ziehen sie aus demselben Ereignis entgegengesetzte Schlüsse: Erwartungsgemäß hielten George W. Bush und Tony Blair die Anschläge für einen Beleg dafür, dass gegen »die Feinde der Zivilisation«, wie der britische Premierminister die Attentäter beschrieb, nur Gewalt und Präventivkriege helfen. Und ebenso erwartungsgemäß beweisen sie laut den Kriegsgegnern das Scheitern der anglo-amerikanischen Strategie. »Ich sage es ungern, aber wir haben von Anfang an gesagt, dass der Irakkrieg unweigerlich zu mehr Terroranschlägen führen wird«, sagte Lindsay German, Sprecherin des breiten Bündnisses, das die Demonstration gegen den Staatsbesuch organisierte. Im gleichen Sinne äußert sich Caroline Lucas, Sprecherin der ziemlich einflusslosen britischen Grünen: »Diese Anschläge zeigen, dass unsere Welt jetzt keineswegs sicherer geworden ist.«

Der Londoner Bürgermeister Ken Livingston bezeichnete Bush gar als die »größte Bedrohung von Leben auf dem Planeten« und lud demonstrativ Anti-Kriegsaktivisten zu einem »Friedensempfang« ins Rathaus ein. Den Zeitpunkt für die Einladung wählte er mit Bedacht; zur gleichen Zeit traf sich Bush in der US-Botschaft mit Angehörigen britischer Opfer des 11. September 2001.

Die weit verbreitete Ablehnung des Irakkrieges hat mit Beschwichtigungspolitik nichts zu tun. Mit Ausnahme kleiner muslimischer Gruppen hält der überwiegende Teil der Friedensbewegung den politischen Islam und seine Avantgarde für gefährlich und bekämpfenswert. Terroristen wie al-Qaida seien »Mörder und Provokateure«, sagte ein Demonstrant. Uneinigkeit besteht hingegen darüber, wie der Terrorismus zu bekämpfen sei. Gleichzeitig sieht sich die Bewegung gezwungen, die Rechtfertigung der Kriege in Afghanistan und dem Irak anzugreifen.

Der Rhetorik vom Terror hat sie wenig mehr entgegenzusetzen, als sie umzukehren und gegen die eigenen Staatschefs zu richten. Keine Parole war auf den Demonstrationen so häufig vertreten wie: »Bush – Terrorist Nummer eins«. Manchen galten Bush als der wirkliche »Schlächter von Bagdad« und die USA als »der schlimmste Schurkenstaat der Welt«. Symbolischer Höhepunkt und Höhepunkt dieser Symbolik war das Umstürzen einer fünf Meter hohen Statue des amerikanischen Präsidenten bei der Abschlusskundgebung.

Der hohe Besuch aus den USA hat von all dem nichts mitbekommen. Die Gattin des Präsidenten, Laura Bush, sagte kurz vor der Abreise einem Journalisten, die Demonstrationen seien wohl nicht besonders groß gewesen, sie jedenfalls habe von ihnen nichts bemerkt. Offenbar hatte sie niemand darüber informiert, dass die Sicherheitsmaßnahmen für ihren Besuch die aufwändigsten in der britischen Geschichte waren. Über 13 000 Polizisten und Sicherheitsleute, Scharfschützen und Zivilbeamte waren im Einsatz. U-Bahnhöfe und Schulen wurden geschlossen, der Verkehr wurde umgeleitet, um Attentätern keine Gelegenheit zu bieten und Bush den Anblick von Demonstranten zu ersparen. Nach der Abreise des Präsidenten war die Erleichterung groß bei den Londonern, »die nun endlich ihre eigene Stadt wieder in Besitz nehmen können«, wie eine Boulevardzeitung schrieb.

Politische Konsequenzen hatte der Besuch nicht. Auf offizieller Ebene war alles Eintracht und Harmonie, weil Interessenunterschiede wie die protektionistischen Zölle der USA auf Stahlimporte sorgfältig ausgeklammert wurden. Auch die neun britischen Staatsbürger, die in Guantánamo Bay festgehalten werden, spielten in den Gesprächen der beiden Staatschefs keine Rolle.

Die Bedeutung des Besuchs von Bush war, wie so oft, symbolisch. Tony Blair darf keine Schwäche zeigen, weil er in der eigenen Partei unter Druck steht, und eine Absage als »Schuldeingeständnis« gewertet worden wäre. Kaum die Hälfte der britischen Wahlberechtigten geht wählen, über die Hälfte hält den Premierminister für einen Lügner. So bleibt nach dem Staatsbesuch kaum mehr als die Verwunderung darüber, wie lange sich das bankrotte politische System weiterschleppen kann. Auch weitere zivile Opfer im »Krieg gegen den Terror« wie die in der Türkei werden nicht bewirken, dass die Briten die Reihen hinter ihrem Regierungschef schließen.