Europa wird ordentlich

Der Stabilitätspakt, die Verfassung, die Verträge: Berlins Politik macht die Europäische Union immer deutscher. von ralf schröder

Nicht wenige Kommentatoren sprachen von einer »Nacht der langen Messer«. Nach neunstündigen Verhandlungen gelang es dem deutschen Finanzminister Hans Eichel am Dienstag vergangener Woche, drohende EU-Sanktionen wegen des Berliner Haushaltsdefizits abzuwenden. Während die deutsche Position entschieden von dem französischen Finanzminister Francis Mer unterstützt wurde, der ebenfalls wegen seiner Verschuldungspolitik von Strafe bedroht war, plädierten Österreich, die Niederlande, Spanien und Finnland für die Einhaltung des Euro-Stabilitätspaktes. Griechenland und Belgien wechselten während der nächtlichen Verhandlungen auf die deutsch-französische Linie, die Schweden und Dänen verzichteten als Nicht-Euro-Länder auf ihr Stimmrecht, und die anderen Finanzminister stimmten mit Eichel, der zufrieden von der »bestmöglichen Lösung« sprach, »die wir haben konnten«.

Österreichs Finanzminister Karlheinz Grasser hingegen bezeichnete den Beschluss als »nicht akzeptabel«, sein niederländischer Kollege Gerrit Zalm erklärte den 1997 von Theo Waigel durchgesetzten Pakt, der die EU-Regierungen zur Haushaltsdisziplin zugunsten eines stabilen Euro verpflichtet, für tot. Der spanische EU-Währungskommissar Pedro Solbes sprach in einem für einen Diplomaten außerordentlich scharfen Ton von einer Entscheidung »ohne legale Grundlage«: »Ich denke, wir haben einen Wechsel von einem Regelwerk zu einem politischen System. Das ist eine erhebliche Veränderung.«

Der Mann hat Recht und Unrecht. Nie bisher hat die deutsche Seite derart offen gezeigt, dass sie feierliche Vereinbarungen, die auf Ebene der EU getroffen werden, zur Disposition stellen wird, sobald die eigenen Interessen es erfordern. Andererseits hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder bereits im Sommer angekündigt, europäische Verträge müssten lediglich eingehalten werden, »so weit es geht«. Die eigene Handlungsfähigkeit hat sich Berlin von der EU ohnehin noch nie einschränken lassen. Ob es die Verordnung über die für die Industrie recht teure Rücknahme von Altautos war, die die Kommission 1999 nach einer energischen Intervention von Schröder zurücknehmen musste oder jüngst eine für die Konzerne ebenfalls kostspielige Regelung zur Erforschung der Gefahren chemieindustrieller Stoffe – wenn Berlin laut wird, hält man in Brüssel die Klappe. Lediglich wenn sie mit Beschwerden über die Auswirkungen der eigenen Deregulierungs- und Privatisierungspolitik konfrontiert sind, erkennen deutsche Regierungen traditionell gerne die Bedeutung der EU-Kommission an und verweisen die Betroffenen in die belgische Hauptstadt.

Die deutsch-französische Provokation in Sachen Stabilitätspakt resultiert aus jenem Schock, den einige EU-Staaten und fast alle Beitrittsländer im vergangenen Frühjahr mit ihrer Entscheidung verursachten, den US-Überfall auf den Irak mitzutragen. Schaut man sich die Verhandlungen über die geplante EU-Verfassung an, wird deutlich, dass Berlin und Paris die Durchsetzung der eigenen Interessen insgesamt weitaus rigider betreiben als in der Vergangenheit.

Als im Sommer der ehemalige französische Staatspräsident Valery Giscard d’Estaing einen Entwurf für eine europäische Verfassung vorlegte, trugen die kleineren und die neuen EU-Staaten etliche Bedenken vor. Der Grund für »die Schärfe der Auseinandersetzung« sei klar, so erklärte Ende September in der Welt am Sonntag Professor Werner Weidenfeld, politologischer Chefdenker der Bertelsmann-Stiftung und einer der informellen Hauptstrategen rot-grüner Außenpolitik: »Die Machtfrage ist gestellt! Schlagartig wird der ganze Nebel des europapolitischen Pathos gelüftet. Nackt und brutal konzentriert sich alles auf die Macht. Europa ist endgültig politisch geworden.«

Die Auseinandersetzung reagierte unter anderem auf Vorschläge des Verfassungsentwurfes, die eine Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen und gleichzeitig eine neue Gewichtung der Stimmen vorsehen. Künftig soll eine Mehrheit dann gegeben sein, wenn die Hälfte der Regierungen einer Vorlage zustimmt und damit gleichzeitig 60 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert sind. Auf der Regierungskonferenz in Nizza hingegen war 2000 ein Abstimmungsmodus beschlossen worden, der für die Zeit nach der Ost-Erweiterung ein faktisches Mehrheitsquorum von 74 Prozent der gewichteten Stimmen vorsieht, wobei hier unter weniger strenger Berücksichtigung der Bevölkerungszahl die Stimmen der kleinen und mittleren Staaten deutlich stärker zählen würden.

Als sich deshalb in den vergangenen Wochen vor allem Spanien und Polen gegen eine Revision dieser Vereinbarungen wandten, offenbarten die deutschen Kommentatoren bereits in ihrer Sprechweise, wie man sich hierzulande das künftige Europa vorstellt. Typisch Christian Wernicke, Kommentator der Süddeutschen Zeitung, der bekannt gab, in Polen seien »hochrangige Wirrköpfe« von dem Wunsch getrieben, »Europa mit dieser Zwangsjacke namens Nizza zu fesseln«. Suspendierte man hingegen Nizza, dann, so schrieb etwa Die Welt, würde Deutschland »deutlich besser gewichtet. Nach dem Vertrag von Nizza verfügen wir über 9,04 Prozent der Stimmen – nach der Verfassung über 18,22. Die Macht Deutschlands würde sich verdoppeln.« Kein Wunder, dass Rotgrün in die aktuelle Regierungskonferenz mit der Forderung ging, das Verfassungspaket dürfe keinesfalls »aufgeschnürt« werden.

Auch deshalb nicht, weil die vorgesehene Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen einem alten deutschen Verlangen nachkommt. Unter hunderten von Kommentaren, die hierzulande jüngst zu dieser Frage verfasst wurden, gibt es kaum einen, der diese Innovation nicht als Verbesserung der »Handlungsfähigkeit« der EU begrüßt hätte. So lobte die Financial Times Deutschland bereits im Juni, »die Länder« träten nun »ein großes Stück Macht an die Europäische Union ab. Erstmals werden Entscheidungen gegen den Willen einzelner Regierungen möglich. Der Europäische Rat wird sich von Einzelinteressen eines kleinen Landes wie Malta oder Slowenien kaum mehr torpedieren lassen. Entweder das Land beugt sich der Mehrheit oder es wird einfach überstimmt.« Einen Vorgeschmack auf solche Zeiten lieferten jetzt die Verhandlungen um den Stabilitätspakt, die mit einer bisher einmaligen und für Deutschland siegreichen Kampfabstimmung unter den Finanzministern endeten.

Auch anderweitig enthält der Verfassungsentwurf durchaus zusätzliche Möglichkeiten, Abweichler auf die deutsche Linie zu bringen, die außenpolitisch vorerst eine deutsch-französische sein dürfte. Was einst als »Kerneuropa« oder »Gravitationszentrum« in Umlauf gebracht wurde, die verstärkte oder besonders enge Zusammenarbeit einer kleinen Staatengruppe innerhalb der EU, soll nun Bestandteil der Verfassung werden. Besonders brisant ist dabei, dass die Sonderkooperationen im Rückgriff auf die EU-Haushalte stattfinden könnten.

Wohin die repressive Vergemeinschaftung Europas führen soll, hat Werner Weidenfeld recht gradlinig beschrieben. »Die einzig verbliebene Supermacht USA hat zu einer Politik der Welthegemonie weder Wille noch Potenzial«, schreibt er. »Die Uno als Weltorganisation verfügt nicht über die formative Kraft und Durchsetzungsfähigkeit.« Da biete es sich doch an, dass Europa mithelfe, die Welt zu ordnen, zumal unter allen denkbaren Weltmächten »das Potenzial der Europäischen Union dem der Weltmacht USA am nächsten« komme. »Ja, es ist ihm in wichtigen Teilen sogar überlegen.« Schwerwiegende Defizite habe Europa allerdings im Hinblick auf »ein rationales Kalkül seiner weltpolitischen Interessen«. So etwas kann es zwar gar nicht geben, aber immerhin hilft die typisch deutsche Wahnvorstellung eines europäischen Kollektivwillens, die wachsende Aggressivität der Berliner Hegemonialpolitik zu verstehen.