Lebendig und doch schon tot

Lukas Moodysson ist mit »Lilya 4-ever« ein eindrucksvoller Film über Menschenhandel und Kinderprostitution gelungen. von silke kettelhake

Mein Herrrz brrrennt!« Pathetisch rollen Rammstein das R in der Eingangssequenz des neuen Films von Lukas Moodysson, »Lilya 4-ever«. Die Kamera zeigt dazu eine graue Vorstadtarchitektur, einen Schauplatz, wie man ihn überall in der westeuropäischen Suburbia finden kann. Plötzlich dieses Mädchen: Panik im Blick; die nackte Angst ist ihr ins Gesicht geschrieben. Unter ihren Füßen brandet gleichförmig der Verkehr. Sind das die letzten Momente vor dem Sprung ins Nichts?

Mit harten Bildern voller Schocksekunden beginnt »Lilya 4-ever«. Nach dem tragikomischen Film über ein lesbisches Coming-out in »Fucking Amal« und dem mehr oder minder heimeligen WG-Chaos in »Zusammen« ist Moodysson mit »Lilya 4-ever« ein dunkles Meisterwerk gelungen.

Die 16jährige Lilya (Oksana Akinshina) erzählt jedem, der es hören will oder auch nicht: »Ich gehe nach Amerika!« Raus aus dem kaputten Sowjetreich will sie, raus aus der Tristesse der Mietskasernen, wo Armut, Gewalt und Hoffnungslosigkeit lauern wie große gemeine Spinnen. »Dieser Ort war einst ein Zentrum der Macht, doch heute ist er leer«, sagt Moodysson zur Auswahl seines Drehortes außerhalb von Tallin, nahe einem ehemaligen sowjetischen U-Boot-Stützpunkt.

Alle wollen weg hier. Wer hier aufwächst, wünscht sich manchmal, nicht geboren zu sein. Doch Lilyas Mutter haut einfach ab, mit ihrem Lover aus der Partnervermittlung. Im neuen Leben mit dem Exilrussen kann sie keine Teenagertochter gebrauchen, die sowieso nur »ein Unfall« war. Eines Morgens sitzt die Mutter im Auto, sie fährt fort, für immer, kein Wort, kein Brief, keine Liebe, nichts mehr. Wie ein geprügelter junger Hund sackt Lilya im Nachthemd heulend in der schlammigen Fahrrinne zusammen.

Tante Anna, die eigentlich auf Lilya aufpassen soll, erweist sich als versoffener Drachen, der es sich in Lilyas Wohnung gemütlich macht. Lilya muss umziehen, in ein dreckiges Loch, wo kurz zuvor ein alter Mann bis zu seinem Tod hauste. Höflich fragt Lilya, ob Tante Anna das denn so in Ordnung finden würde. Die entgegnet ihr schroff, dass sie, Lilya, die Miete ja für die alte Wohnung nie hätte aufbringen können. Und überhaupt, sollte sie Geld benötigen, müsse sie nur tun, was ihre Mutter getan hat – die Beine breit machen.

Einzig der elfjährige Volodya, immer auf der Flucht vor seinem prügelnden, alkoholabhängigen Vater, ist in dieser harten Phase ein menschliches Wesen, das für Lilya da ist, so wie sie für ihn. Dennoch nimmt die Tragödie ihren Lauf. Eine Mitschülerin prostituiert sich am Wochenende in der Disco. Sie steckt das verdiente Geld aus Angst vor der Entdeckung Lilya in die Taschen. Lilya, als allein stehendes Mädchen mit geplatzten Träumen sowieso schon stigmatisiert in der Siedlung, wird sukzessive zum Freiwild. Die alkoholisierten Jungs aus der Nachbarschaft vergewaltigen sie in ihrer Wohnung und Volodya muss dabei zusehen. Scheinbar ungerührt und unberührt ritzt Lilya unter dem Gejohle der Vergewaltiger am nächsten Tag in die Bank vor ihrer Mietskaserne: »Lilya 4-ever« – als ob sie damit den anderen ihr Recht aufs Dasein beweisen möchte. Ohne viele Worte scheint Lilya ihr traumatisches Erlebnis abzuschütteln und versucht sich ebenfalls als »Gelegenheitsprostituierte«. Nach ihrem ersten Freier kann sie kaum aufhören zu kotzen. Aber endlich hat sie Geld.

Fortan gibt es diese Szene in verschiedenen Variationen: Lilya beißt die Zähne zusammen und lässt sich ficken. Die durchgängig eingesetzte Handkamera übernimmt dabei den subjektiven Blick des Freiers. Es ist, als würde der Zuschauer zum Mittäter gemacht, der den Blick nicht von dem teilnahmslosen Mädchen zwischen den Hotellaken wenden kann.

Der einzige Mann, der in diesen Wochen nicht in erster Linie mit Lilya schlafen will, ist Andrei. Der sanftäugige Russe lebt in Schweden und verspricht ihr, dass sie sich dort ein Leben aufbauen kann. Lilya, bis über beide Ohren in ihn verliebt, glaubt ihm. Volodya dagegen weint. Als Lilya geht, schmeißt er einen tödlichen Medikamentencocktail.

Lilya steigt allein ins Flugzeug, das sie nach Schweden bringen soll. Andrei hat noch in Russland zu tun. Am Flughafen in Schweden wartet sein Kompagnon Witek, der Lilya den Pass abnimmt und sie in ein Hochhausappartement weit über einer diesigen Stadt sperrt. Willkommen im Westen! Hungrig verschlingt Lilya den täglichen McDonald’s-Fraß auf der Rückbank, auf dem Weg zwischen zwei »Hausbesuchen«, zu denen sie gezwungen wird. Fast unerträglich ist jetzt der Wechsel der Kameraperspektive in den Betten: Wie stöhnende räudige Hunde machen sich die Freier über Lilya her. In der Saunaclubszene wechseln in schnellem Rhythmus haarige Bäuche, rot erhitzte Gesichter und faltiges Männerfleisch leinwandfüllend einander ab. Dieser bestialischen Wirklichkeit versucht Lilya in ihren Träumen zu entfliehen. In diesen trägt Volodya kleine weiße Flügel, wie auf dem Heiligenbild, das Lilya auf ihrer Odyssee verwahren konnte. Diese Momente wären in jedem anderen Film sentimentaler Kitsch. Aber hier bedeuten Lilyas Illusionen ein kurzes Aufatmen – bevor mit dem nächsten Tag der Schrecken ohne Ende wieder beginnt.

Moodysson über seinen Film: »Erst die Vergewaltigung durch den Kommunismus, dann die durch den Kapitalismus. Worüber man einen Film macht, ist eine politische Entscheidung, und in diesem Sinne ist mein Film eben ein politisches Statement.« Aus einer ganz normalen Zeitungsmeldung, in der stand, »Menschenhändlerring zerschlagen, der weibliche Minderjährige aus Osteuropa versklavte«, hat Moodysson mit »Lilya 4-ever« ein packendes filmisches Plädoyer für eine freie Selbstbestimmung von Kopf und Körper gemacht. Lilyas Geschichte steht für reale Schicksale hunderttausender Frauen. Im Film wirkt sie wie ein Märchen. Und die sind eben ja oft grausam, aber wahr.

»Lilya 4-ever« (S 2002), Regie: Lukas Moodysson. Start: 4. Dezember