Porträt des Tennisspielers als junger Mann

Sportarten im Selbstversuch X: Tennis und die Dialektik einer politischen Sozialisation. von jan röhlk

Es muss ein anderer Mensch gewesen sein, der in den Sommerferien der Jahre 1987 bis 1991 als neun- bis 13jähriger Schüler jeden Tag acht Stunden lang Bälle über das Netz gehauen hat, der von seinen Eltern immer im jeweils aktuellsten Boris-Becker–Sponsoren–Outfit bekleidet wurde – natürlich war Beckers Ellese-Kombination mit dem klassichen Weiß und dem kleinen rot-orange-roten Halbkreis schicker als später die von Puma – und zu dessen größtem Glück »eine große Cola und einmal Tortellini mit Salat« abends im Club-Restaurant des Ruder-, Tennis-, Hockeyclubs RTHC Leverkusen gehörte.

War ich das wirklich?

Gab es wirklich diese Zeit, in der ich zweimal in der Woche – erst Montag und Freitag, später Montag und Mittwoch – je zwei Stunden am Nachmittag Gruppentraining hatte und an jedem Wochenende noch Mannschaftsspiele mit der Tennis-Jugendmannschaft?

Ja, es war so. Ich war 1988 und 1989 sogar mal Stadtmeister von Leverkusen und besitze noch eine Urkunde, die mich als Zweitplatzierten der RTHC-Clubmeisterschaften im Doppel ausweist. Ich weiß auch noch, dass irgendwann sogar die latente Utopie bestand, mein Talent zu fördern. Ich überzeugte mit dem erdigen, Michael Chang eine Ehre erweisenden Ball-übers-Netz-Schaufeln, verbunden mit konsequenter Nicht-Präsenz am Netz.

Dreimal in der Woche Training, dazu einmal pro Woche Konditraining mit Fitnessexperten des Clubs – eine elendige Schleiferei im Kraftraum, alles verbunden mit der Option auf Höheres: Jugendliga, 3. Herrenliga, Bundesliga, Wimbledon?

Vielleicht machte es auch auf die verantwortlichen Tennisfunktionäre einen positiven Eindruck, dass ich mehrere Jahre Balljunge bei den Wochenend-Partien der Auftritte des RTHC in der Herrenbundesliga war. Für einen Trinkbon über eine Cola und einen Essensgutschein über eine Bratwurst mit Brötchen und einen Best-of-Five-Trainingsanzug durfte ich sechs Stunden lang in der Sonne stehen. Einmal hätte ich im Jahr 1991 sogar fast auf dem Center Court Michael Stich neue Bälle, frische Handtücher und ein kühles Gatorade gereicht.

Dass Leistungsbereitschaft damit zu tun hat, dass man die Schule weitgehend für den Sport zurückstellt, dass man sich anstrengen und auch hart gegen sich selbst sein sollte – schon im Schulsport konnte ich keine Liegestütze –, wurde mir allerdings erst im Laufe meiner angehenden Tenniskarriere bewusst.

Irgendwann wurde es schwierig, sich einfach zu verabreden, neben den Trainingseinheiten und Turnieren blieb einfach keine Zeit. Meine Mutter holte mich immer treu von der Schule ab, fuhr mich mit dem Auto zum 30 Minuten entfernten RTHC, wartete in Köln bei stundenlangem Vorspielen im Auswahltraining für Bezirks- und Verbandsligen und brachte mich sogar einmal nach Belgien zu einem Turnier, wo ich einen respektablen Achtungserfolg erzielen konnte – ausgeschieden im Achtelfinale.

Die Schinderei unter der autoritären Anleitung im Konditionstrainig bereitete mir jedoch mehr und mehr Magenschmerzen, und seither hasse ich alles, was mit Warmups, Sprints, Seilchenspringen, Liegestützen und Gewichtestemmen zu tun hat. Und so nahm die Tenniskarriere, in der ich mich neben der Schule bewähren musste, ein jähes Ende.

Die Antithese »New balls, please« begann in der achten Klasse, wo statt Bluestanzen und unbeschwerten Bauernhochzeit-Spielen auf einmal Früh-Kölsch-Gläser von links und Apfelkorn-Flaschen von rechts auf einen zukamen: Wie nur beides trinken und gleichzeitig eine Zigarette in der Hand halten? war eine andere Fragestellung und eine andere Entscheidungssituation als die, für welche und für wie viele Turniere man sich am übernächsten Wochenende anmelden sollte. Bei einem Schulausflug mit dem Fahrrad in derselben Zeit hörte ich bei einem Klassenkameraden auf dem Walkman zum ersten Mal eine Liveaufnahme der Band Bad Religion (A-Seite) und Songs von Fugazi und den Dead Kennedys (B-Seite).

Tennis hatte keine Zukunft mehr und wurde negiert, obwohl es später zu manchem letztlich komplett sinnlosen Comebackversuch kommen sollte. Da kam ich nämlich als Aktivist der Jugendantifa mit Bad-Religion–Kapuzenpulli auf den Platz. Mein langjähriger Doppelpartner hatte sogar das Dead-Kennedys-Logo auf seinen Schläger gesprüht, und unsere Trainerin übersah auch geflissentlich meine gefärbten Haare und beglückwünschte mich zu meinem erneuten Anlauf.

Irgendwie war diese Tennis-als-Leistungssport-Zeit auch eine schöne Zeit, nämlich eine geborgene und einfache Zeit. Einfache Orientierung durch klare Verhaltensregeln. Noch heute, fast 14 Jahre später, weiß ich meine Trainingszeiten, die meinen Lebenslauf bestimmt haben, auswendig.

Schulsport und das gesunde Essen zu Hause konnten den drohenden Kollaps allerdings nur verzögern. Nach Abitur und Auszug von zu Hause wurde der Schwerpunkt nochmals auf Genuss von Alkoholika, Zigaretten und Feiern konzentriert und das potenzielle Tennistalent akzeptierte in seiner Zivildienstzeit zum ersten (und zum letzten) Mal auf der Waage eine dreistellige Zahl: 103 Kilogramm bei 1,86 Zentimetern Größe.

Die Synthese, die Vereinigung von a.) dem Tennistalent, das b.) nicht mehr wollte, fing im Alter von zwanzig an. Auf einem Wochenendtrip nach Holland mit alten Schulfreunden kamen wir auf die Idee, doch mal ein Tennis-Doppel zu spielen. Schwer mit Dreads behangen, hatte ich nach fast sieben Jahren wieder ein Racket (natürlich nicht im Sinne von Max Horkheimer) in der Hand.

Doch zu sehr steckte der damit verbundene Konkurrenzdruck für mich in dem Spiel. Bewahrt habe ich mir den Sport nur in einer entspannteren Form, die viel Spaß macht.

Auf ein höheres und neues Niveau wurde ich zum Glück nicht mehr gehoben (und gewogen) und somit konnte ich die These-Antithese-Widersprüche getrost in den Keller und zu den alten Dunlop-Bällen, der vergilbten Prince-Schläger-Tasche und zu dem Sergio-Taccini-Pullunder (Yes! Mats Wilander 1988 Australian Open rules!) legen.

Und den Asche-Sandplatz nach jedem Spiel abrechen, das mochte ich sowieso noch nie.