Frei auf Verdacht

Ob Abdelghani Mzoudi etwas mit den Attentaten vom 11. September 2001 zu tun hat, ist nicht geklärt. Weil eine »Auskunftsperson« ihn entlastet, ist er auf freiem Fuß. von elke spanner

Es deutete sich an, dass diesmal etwas dazwischen kommen könnte. Über Wochen war die Bereitschaft des Hamburger Oberlandesgerichts offenkundig, auch in Abdelghani Mzoudi einen Schuldigen für die Terroranschläge des 11. September 2001 zu sehen. Es sollte ihm nicht anders gehen als dem im Februar vom Strafsenat wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und der Beihilfe zu 3045fachem Mord zu 15 Jahren Haft verurteilten Mounir El Motassadeq.

In der vergangenen Woche, als die Plädoyers beginnen sollten, schaltete sich die Bundesregierung plötzlich in das Verfahren ein. Sie kündigte überraschend an, überprüfen zu wollen, ob die Aussagen des mutmaßlichen Vertrauten Ussama bin Ladens, Chalid Scheich Mohammed, nicht doch im Prozess verwendet werden könnten.

Erstmals schienen damit die deutschen »Kämpfer gegen den Terror« bereit, den Konsens zwischen Geheimdiensten, Staatsvertretern und der Justiz aufzukündigen, nach dem einerseits die konsequente Verfolgung mutmaßlicher Unterstützer der Attentäter gefordert, andererseits dem Gericht aber wichtiges Beweismaterial vorenthalten worden war. Dazu gehörten etwa die Aussagen von hochrangigen, in den USA inhaftierten al-Qaida-Mitgliedern. Als das Bundeskriminalamt vergangenen Donnerstag doch die Informationen einer »Auskunftsperson« offenbarte, war es nur noch eine Frage weniger Stunden, bis Mzoudi nach über einem Jahr in Untersuchungshaft ein freier Mann war.

Denn jene Person hatte zu Protokoll gegeben, dass lediglich die Attentäter Mohammed Atta, Marwan Al Shehhi und Ziad Jarrah in die Attentatspläne eingeweiht waren, nicht aber Freunde von ihnen. »Es besteht die ernsthafte Möglichkeit, dass Mzoudi trotz seiner Einbindung und trotz seines Aufenthaltes in Afghanistan bewusst von der Anschlagsplanung ausgeschlossen wurde und seine unterstützenden Handlungen nicht bewusst erbracht hat«, sagte der Vorsitzende Richter Klaus Rühle. Mit der gleichen Begründung verlangt auch der Anwalt des bereits verurteilten Motassadeq die Freilassung seines Mandanten.

Da die »Auskunftsperson« unbenannt blieb, musste das Gericht ohne eigene Prüfung ihre Glaubwürdigkeit voraussetzen. Der Senat und auch Bundesanwalt Walter Hemberger gehen davon aus, dass es sich um Ramzi Binalshibh handelt, den einzigen bekennenden Mitattentäter neben Scheich Mohammed. Binalshibh wurde vorigen Herbst im pakistanischen Karachi festgenommen und wird seither an einem unbekannten Ort in den USA verhört.

Schon lange war bekannt, dass die Behörden in den USA den deutschen Geheimdiensten und dem Bundeskanzleramt die Aussageprotokolle Binalshibhs zur Verfügung gestellt hatten. Dem Gericht aber blieb die Einsicht verwehrt. Die Veröffentlichung, so hieß es, könne die Sicherheitsinteressen in der ganzen Welt gefährden.

Inzwischen aber ist der Inhalt der Unterlagen auf anderem Wege bekannt geworden; in den Medien wurden Auszüge daraus zitiert. Prozessbeobachter gehen deshalb davon aus, dass die deutschen Behörden mit der Preisgabe ihrer Informationen der Gefahr entgegenwirken wollten, eines Tages einräumen zu müssen, einzelne Angeklagte im juristischen »Kampf gegen den Terror« geopfert zu haben.

Die »Terroristenprozesse«, die vor deutschen Gerichten gegen mutmaßliche islamistische Attentäter und ihre Helfer geführt werden, zeigten bisher nämlich vor allem eines: Nicht allein die Anschläge vom 11. September 2001 haben die Welt verändert, sondern auch die Reaktion der »westlichen Welt« darauf. Und nicht nur George W. Bush meint, den »Kampf gegen den Terror« mit allen Mitteln führen zu dürfen.

Die rot-grüne Bundesregierung änderte nach dem 11. September 2001 zunächst verschiedene Gesetze. War es vorher für die Verurteilung nach dem »Terroristenparagrafen« 129 a StGB noch nötig, den Beschuldigten der Mitgliedschaft oder Unterstützung einer inländischen Terrororganisation zu überführen, so reicht mit der Einführung des Paragrafen 129 b die Zugehörigkeit zu einer ausländischen Organisation. Schließlich will man dafür gewappnet sein, künftig Mitglieder internationaler Netzwerke wie al-Qaida bestrafen zu können.

Da die Gesetzesänderung nicht rückwirkend gilt, können die mutmaßlichen Unterstützer der Selbstmordattentäter um Mohammed Atta lediglich nach dem alten Paragrafen angeklagt werden. Deshalb behelfen sich die Ankläger ähnlich wie in früheren Verfahren gegen Funktionäre der kurdischen PKK damit, von einer eigenständigen »Hamburger Zelle« rund um die Wohngemeinschaft Attas auszugehen. Die soll den »heiligen Krieg« zwar für al-Qaida geführt, aber eigenständig im Hamburger Stadtteil Harburg geplant und vorbereitet haben.

Die Anklagen der Bundesanwaltschaft gegen Mzoudi und Motassadeq unterstellen, dass sich die Männer spätestens im Frühjahr 1999 zusammenschlossen und den Plan entwickelten, entführte Flugzeuge als Bomben einzusetzen. Auf Grundlage dieser Annahme wurde Motassadeq im Februar verurteilt. Entscheidend für das Urteil war eine Szene, die sich im Frühjahr 1999 in einer Universitätsbibliothek abgespielt haben soll. Damals hätte der spätere Attentäter Marwan Al Shehhi in einem Wutanfall der Bibliothekarin angekündigt, bald werde in den USA viel Blut fließen. Auch das World Trade Center sei bereits erwähnt worden. Und wenn die Attentäter ihren Plan schon Unbekannten verrieten, lautete die Logik des Gerichts, müssten erst recht gute Freunde wie Motassadeq oder Mzoudi eingeweiht gewesen sein.

An dieser These hielt die BAW bis vor kurzem fest, obwohl die Beweislage mittlerweile eine andere ist. Denn im Verfahren gegen Mzoudi schilderte der Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, dass die Pläne für den Anschlag den Erkenntnissen des Geheimdienstes zufolge in einem militärischen Ausbildungscamp in Afghanistan entwickelt worden seien. Die Hamburger seien erst Ende des Jahres 1999 zur Durchführung angeworben worden, als der Tatplan bereits bestand.

Das aber genügte dem Gericht nicht, um Mzoudi aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Der dringende Tatverdacht bestehe fort, hieß es. Wann genau die Hamburger Gruppe in die Pläne eingeweiht worden sei und mit der Vorbereitung begonnen habe, sei juristisch nicht von Belang. Schließlich könne Mzoudi die Attentäter auch im Jahr 2000 noch unterstützt haben, als diese zur Flugausbildung in den USA weilten und Mzoudi etwa den GEZ-Beitrag für die Wohnung in der Marienstraße überwies.

Dass bisher die Beweislage der Anklage angepasst wurde und nicht umgekehrt, offenbart den Willen der deutschen Justiz, für die Anschläge des 11. September Schuldige zu finden. Anschaulich war im ersten Prozess gegen Motassadeq ein Auftritt von Angehörigen der Opfer, die während der Beweisaufnahme vor dem Hamburger Oberlandesgericht die Höchststrafe für Mounir El Motassadeq forderten, ihn als Teufel beschimpften und nicht vom Gericht gestoppt wurden.

Bisher war die deutsche Justiz der Erwartung ausgesetzt, den »Kampf gegen den Terror« im Gerichtssaal zu führen, ohne dass ihr das dafür erforderliche Beweismaterial zur Verfügung gestellt worden wäre. Statt aber gegen die Sperrerklärungen vorzugehen oder den Grundsatz »im Zweifel für den Angeklagten« gelten zu lassen, hielten die Bundesanwaltschaft und das Oberlandesgericht an ihren Beschuldigungen fest. Bei Motassadeq scheute sich das Gericht nicht, auch ohne die Aussageprotokolle von Binalshibh und Scheich Mohammed die Höchststrafe auszusprechen. Im Verfahren gegen Mzoudi sah es lange Zeit so aus, als wolle das Gericht ähnlich verfahren.

Inzwischen beantragte er politisches Asyl in Deutschland, da er befürchte, im Falle seiner Abschiebung nach Marokko den Amerikanern in die Hände zu fallen.