Alle gegen alle

Der nigerianische Staat hat die sozialen Bewegungen im Nigerdelta erfolgreich neutralisiert. Was bleibt, sind bewaffnete Konflikte ohne feste Frontlinien. von ruben eberlein

Militärhubschrauber kreisen über der Stadt, schwer bewaffnete Soldaten stehen an den Sperren aus Sandsäcken auf den Hauptverkehrsstraßen von Warri. Der Sawmill Market ist komplett niedergebrannt. Von einigen Dutzend Häuschen in den angrenzenden Straßen stehen nur noch die Grundmauern. »Sowohl Itsekiri als auch Ijaw wohnten hier«, erklärt mein Begleiter. »Sie müssen einander gut gekannt haben.« An eines der erhaltenen Häuser hat der Besitzer in großen roten Lettern seinen Namen geschrieben, der ihn als Angehöriger einer weiteren Gruppe, der Urhobo, erkennbar macht. So hoffte er, letztlich erfolgreich, den Zerstörungen und Brandschatzungen zu entgehen.

Das westliche Nigerdelta befindet sich seit März 2003 erneut in einem Krieg ohne feste Frontlinien. Besonders die latenten Spannungen um die ölreiche Stadt Warri explodierten in einer Serie von Attacken und Gegenangriffen ethnischer Milizen. Seitdem wurden allein hier Hunderte Menschen getötet, ungezählte Dörfer niedergebrannt und Tausende vertrieben. Die Bundesregierung Nigerias hat in den Konfliktgebieten unter dem Namen »Operation Restore Hope« Schätzungen zufolge etwa 3 000 Soldaten stationiert, die jedoch nicht fähig sind, die Kämpfe zu beenden.

Umkämpft ist vor allem die politische Vorherrschaft in den Dörfern und Städten des Nigerdeltas, in den Local Government Areas (LGA) und den Erdöl produzierenden Bundesstaaten. Eine gute Position in den fragmentierten und oft konkurrierenden formellen und informellen Herrschaftsstrukturen verheißt bares Geld. Die Grenzziehung zwischen LGA oder den Communities, die Verlegung eines administrativen Zentrums oder die Aufteilung von Wahlkreisen haben direkte Auswirkungen auf die Aussicht, in den Genuss der offiziellen und inoffiziellen Zahlungen der Ölfirmen und der Zuteilungen aus dem föderalen Budget zu kommen.

Besonders in den abgelegenen Gebieten des Nigerdeltas ist der Staat meist ausschließlich als repressiver Apparat präsent. Sozio-ökonomische Interventionen überlässt er den dort aktiven Ölfirmen, die mit Hilfe nationaler und internationaler Entwicklungshilfeorganisationen mehr schlecht als recht versuchen, die Forderungen aus den Gemeinden zu erfüllen.

Der Status einer Host Community, auf deren Gebiet Erdöl gewonnen wird, entscheidet darüber, ob Entwicklungsgelder aus den Community-Development-Abteilungen von Shell, Chevron oder Agip fließen. Dieser Status ist hart umkämpft, verspricht er doch die Aussicht auf eine Trinkwasseranlage, einen Generator oder einen neuen Bootsanlegesteg. Benachbarte Dörfer streiten um die Rechte an dem Land, auf dem die Pumpstation oder Förderanlage eines Ölkonzerns liegt.

Bei der fortgesetzten Militarisierung der Konflikte im Nigerdeltag spielt die Ausstattung von Jugendgruppen mit Wachschutzverträgen durch die Ölfirmen eine besondere Rolle. Auf dem Papier haben sie die Aufgabe, die Förderanlagen zu schützen, tatsächlich soll damit das Stillhalten dieser Generation ohne jede Aussicht auf eine bessere Zukunft erkauft werden. Von den Geldern rüsten sich die Milizen meist auf dem lokalen Waffenmarkt mit Schnellfeuergewehren oder Bazookas aus.

Die Ölfirmen bestreiten vehement, für die Bewaffnung der Milizen Verantwortung zu tragen. Aber nach Ansicht lokaler Beobachter instrumentalisieren sie die Jugendgruppen für ihre Zwecke und schüren die Gewalt zwischen ihnen. »Es ist eine weit verbreitete Praxis der Ölfirmen, mit der jeweils stärksten Jugendgruppe zusammenzuarbeiten«, sagt Dimieari Von Kemedi, der in Port Harcourt die NGO Our Niger Delta leitet, der Jungle World.

Nigerianische Tageszeitungen berichteten zum Beispiel Mitte September von einer Eskalation zwischen Itsekiri- und Ijaw-Gruppen in Ugborodo bei Warri, die nur knapp abgewendet werden konnte. Daniel Mayuku, der für den Wahlkreis im Parlament von Delta State sitzt, beschuldigte die US-amerikanische Firma Chevron, die Spannungen ausgelöst zu haben, indem sie die Empfänger ihrer inoffiziellen Zahlungen kurzfristig wechselte. »Wenn es in nächster Zeit eine blutige Auseinandersetzung in diesem Gebiet gibt, sollte Chevron dafür zur Verantwortung gezogen werden«, forderte Mayuku.

Erst im Oktober dieses Jahres wurde Chevron vom US-State Department für vorbildliche Geschäftspraktiken mit ausdrücklicher Referenz auf das Nigerdelta ausgezeichnet. Die nigerianische NGO Environmental Rights Action bezeichnete die Ehrung des Unternehmens durch Außenminister Colin Powell als »unnötige Beleidigung« der Einwohner des Nigerdeltas und Nigerias.

Bis zu 10 000 Naira (nach offiziellem Kurs 56 Euro) pro Tag sollen einige derjenigen erhalten, die sich an den bewaffneten Machtkämpfen um die Vorherrschaft in und um Warri beteiligen. Für Jugendliche ohne jedes festes Einkommen oder ehemalige Armeeangehörige, deren magere Pensionen nur unregelmäßig ausgezahlt werden, ist das ein immenser Betrag. Vor Wahlen heuern Politiker verstärkt militante »Wahlhelfer« an, die später wieder sich selbst überlassen sind. Nicht selten wenden sie sich dann gegen ihre ehemaligen Arbeitgeber, um ausstehenden Sold einzutreiben, und engagieren sich in Schutzgelderpressungen oder gelegentlich auch in Entführungen von ausländischen Ölarbeitern. Das Geschäft mit gestohlenem Rohöl, in das Politiker auf höchster Ebene involviert sein sollen, gilt darüber hinaus als eine der profitabelsten Unternehmungen in Nigeria.

Nigeria exportiert täglich mehr als zwei Millionen Barrel Rohöl, doch für die meisten Nigerianer hat dieser natürliche Reichtum keine positiven Seiten. Die Einkünfte aus dem Ölgeschäft werden seit eh und je zum großen Teil über Bauaufträge in den Metropolen Abuja und Lagos privatisiert oder von der herrschenden Staatsklasse sofort auf ausländische Konten transferiert. Gesundheits- und Bildungswesen, Straßen oder Telekommunikation im Nigerdelta befinden sich in einem ähnlich desaströsen Zustand wie im Rest des Landes. Darüber hinaus zerstört die Ölindustrie Fischfang und Landwirtschaft.

Eine geeinte soziale Bewegung gegen diese Zustände gibt es nicht. Die staatlichen Organe haben sich, ob in Zeiten der offenen Militärdiktatur oder heute unter der Regierung Olusegun Obasanjos, auf deren Spaltung und Zerschlagung immer gut verstanden. Zu ihren Erfolgen zählt auch, dass die bewaffneten Konflikte im Süden Nigerias meist als ethnische Auseinandersetzungen oder gar »Stammeskämpfe«, wie die taz schrieb, begriffen werden.

Doch tatsächlich zeigt sich im Nigerdelta der Neoliberalismus in seiner gewalttätigsten Form. Die Entbindung des nigerianischen Staates von sozialen und wirtschaftlichen Leistungen, die er zwar auch in der Vergangenheit nie in nennenswerter Größe erbracht hat, die aber zumindest eingefordert werden konnten, ist heute Staatsdoktrin. Internationale Entwicklungsorganisationen legitimieren diesen fortgesetzten Rückzug ideologisch mit fragwürdigen Analysen einer »überregulierten« Wirtschaft.

Die übergroße Mehrheit der Bewohner des Nigerdeltas ist heute mehr denn je von den Almosen der Privatunternehmen abhängig. Doch die, die nichts zu verlieren haben, wenden sich in erster Linie nicht gegen den legalisierten Diebstahl der natürlichen Ressourcen, sondern vor allem gegen ihresgleichen in einem Kampf aller gegen alle.