Die Politik der Inklusion

Die sozialistische Strategie der brasilianischen Arbeiterpartei und die Revolutionsfrage. von fabio akcelrud durão

Der Wahlsieg Lulas in Brasilien vor etwa einem Jahr wurde von überraschend vielen als ein Ereignis von entscheidender Bedeutung, vielleicht sogar als Wendepunkt in der Geschichte Lateinamerikas, wenn nicht gar der Dritten Welt gefeiert. Die Begeisterung bei vielen verschiedenen Strömungen der Linken brachte tendenziell jedoch entweder blinde Unterstützung hervor oder aber totale Ablehnung seitens sich damit selbst isolierender Ultra-Radikaler. Ihre Dringlichkeit und Neuartigkeit machen die Wahl Lulas zu einem Ereignis, zu dem sich die Linke nicht nicht verhalten kann. In diesem kurzen Text möchte ich die erstaunlich erfolgreiche Wahlstrategie des Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei, PT) als Resultat einer bewussten und sorgfältig durchdachten Politik darstellen, für die die Unmöglichkeit einer Revolution in der gegenwärtigen Konjunktur bestimmend ist – zumindest wie sie traditionell gedacht wird.

Eine Analyse der letzten Parlamentswahlen muss zuerst die zwei Hauptfaktoren benennen, die zur Wahl des ersten sozialistischen Präsidenten in der Geschichte des Landes sowie zum Sieg der PT im Kongress geführt haben. Erstens die totale Erschöpfung durch acht Jahre neoliberaler Politik des ehemaligen Präsidenten Cardoso, die das Land durch Verschuldung in bislang unbekanntem Ausmaß, Deindustrialisierung und Rückkehr zur Landwirtschaft als wichtigstem Exportsektor ökonomisch nah an den Abgrund brachte. Sie vergrößerte auch die Kluft zwischen den Klassen, worin manche schon einen sozialen Desintegrationsprozess sahen. Dieser Prozess ist für die zunehmenden Wellen blindwütiger Gewalt in den letzten 20 Jahren verantwortlich; dazu später mehr.

Dies allein reichte aber nicht, um den Wahlsieg der Linken zu garantieren, denn Brasiliens Herrschende haben immer einen Weg gefunden, eine Pseudo-Opposition in den eigenen Reihen herzustellen, wie im Fall Fernando Collor, dem wegen Korruption gefeuerten ehemaligen Präsidenten. In der Präsentation eines falschen Neuen, das immer das Alte war, war die Rechte sehr erfolgreich, zumindest was die Hauptergebnisse dieser Politik betrifft: politischer Skeptizismus und Fatalismus (»Alle Politiker sind gleich!«). Diese Strategie ist insofern gefährlich, als sie im besten Fall praktisch zu Apathie und Anomie führt, im schlimmsten Fall zu irrationaler, protofaschistischer Wut. Daher sind die Wiedergewinnung von Hoffnung und Utopie die wichtigste und unmittelbarste Leistung der Lula-Regierung.

Der zweite Faktor hinter Lulas Sieg sind die Konsequenz und Zielstrebigkeit, mit der ein politischer Plan durchgeführt wurde. Die PT hatte beschlossen, eine revolutionäre Situation wie in Kolumbien zu vermeiden und stattdessen um jeden Preis in die Regierung zu gelangen, nicht als Juniorpartner in einer Koalition, wie die Kommunisten es historisch versucht hatten, sondern als stärkste Kraft. Um dies zu erreichen und um unter Verhältnissen strenger Legalität und unmittelbarer Nicht-Konfrontation zu regieren, musste sie eine Reihe von Kompromissen eingehen: von einem kompetent durchgeführten traditionellen bürgerlichen Wahlkampf bis zum Versprechen, alle Verträge mit dem IWF einzuhalten. Der PT weiß, dass er auf einem schmalen Grat zwischen reinem Management der kapitalistischen Krise und der sozialistischen Agenda wandelt; dabei hofft er, Veränderung schließlich in Revolution umzuwandeln.

Der Schlüssel für diesen Übergang ist eine Politik der Inklusion. Wenn Lula die höchste Priorität darin sieht, jedem Brasilianer drei Mahlzeiten täglich zu ermöglichen, proklamiert er nicht bloß eine humanitäre Agenda, sondern legt den Grund für eine tief greifende Veränderung des ökonomischen und politischen Lebens. Drei Mahlzeiten für alle bedeutet, dass die vielen unterhalb der Armutsgrenze Lebenden zu Konsumenten werden. Dafür muss es eine Agrarreform geben, die Brasiliens feudale Verteilung des Landes durch die Verteilung von unproduktivem Boden an die landlosen Bauern neu ordnet. Der letzte notwendige Schritt in diesem Konzept ist eine neue Politik der Importsubstitution, Reindustrialisierung und Investition in Technologie. Zusammenfassend laufen all diese Maßnahmen auf eine Stärkung des Binnenmarkts und die Schaffung von Verbrauchersubjekten hinaus, was als inklusive Entwicklung(spolitik) bezeichnet werden könnte. Man sollte diese Maßnahmen nicht voreilig »bürgerlich« nennen, denn wenn sie erfolgreich wären, würden sie etwas völlig Neues in Brasiliens 500jähriger Geschichte darstellen. Anders als die Modernisierungssprünge in den fünfziger und siebziger Jahren würden sie eine Umverteilung beinhalten und unter radikal bürgerlich-demokratischen Bedingungen stattfinden; bislang fand Entwicklung in Brasilien stets unter autoritären Regimen statt.

Die Meinungsverschiedenheiten beginnen, wenn es darum geht, was danach kommen soll. Konservative Fraktionen des PT, Repräsentanten einer brasilianischen Sozialdemokratie, sehen im kapitalistischen Egalitarismus ein mögliches dauerhaftes Endziel. Sie sähen Brasilien gerne als solides Mitglied der Zweiten Welt mit starkem Wohlfahrtsstaat. Von einer linkeren Position aus könnte man argumentieren, dass dieser Prozess zu einer revolutionären Situation führen kann. Zuerst muss aber der Spielraum für Innovationen innerhalb dieser Ausweitung des Markts hervorgehoben werden.

Im Hinblick etwa auf die Agrarreform gibt es mehrere Eigentumsformen, die in neuen Siedlungen eingeführt werden könnten, von legalem Gebrauch ohne Eigentum bis zu verschiedenen genossenschaftlichen Organisationsmodellen. Die Verbreitung und Ausdehnung demokratischer Genossenschaften, beginnend z.B. in der Lebensmittelindustrie, könnte eine konkrete Herausforderung für kapitalistische Unternehmerideologien und Praktiken bedeuten. Zweitens könnte der Sozialismus auf die Tagesordnung kommen, wenn die kapitalistische Logik selbst zu Unzufriedenheit führt. Voraussetzung ist, dass bei den vielen, die Mangel und Entbehrungen erfahren, ein einmal erreichtes Wohlstandsminimum Ansprüche entstehen lässt, die für den Kapitalismus bedrohlich werden könnten: Zugang zu höherer Bildung, umfassendere Gesundheitsmaßnahmen etc. Wenn eine gewisse Barriere erst einmal durchbrochen wird, entstehen vielleicht Forderungen, die durch den Kapitalismus stimuliert, von ihm aber nicht erfüllt werden können. Dies steht im Gegensatz zur traditionellen Verelendungsthese, derzufolge revolutionäre Stimmung durch Armut gestärkt wird.

Die Lage der ausgegrenzten Bevölkerung in Brasilien ist paradox. Der Begriff »Geldsubjekte ohne Geld« (Robert Kurz) passt auf jene, die nicht am Markt teilnehmen, sich dessen aber bewusst sind. Es ist möglich, dialektisch zu argumentieren, dass gerade die außerhalb des Marktes stehenden Individuen die wirklichen kapitalistischen Subjekte sind. Von der Frankfurter Schule wissen wir, dass die Warenform eine Struktur der Enttäuschung enthält: Sie macht Versprechungen, die sie nicht halten kann. Als erfahrene Verbraucher erlernen wir eine skeptische Haltung; wir wissen, dass die symbolischen Eigenschaften eines Produkts nicht in ihm liegen, sondern ein Konstrukt sind, das Ergebnis von Werbekampagnen etc. Trotzdem handeln wir, als ob wir daran glaubten. Die »Geldsubjekte ohne Geld« jedoch nehmen die Waren, die sie nicht haben können, beim Wort: Das tolle Auto wird Männern wirklich Frauen bringen; teures Makeup macht Mädchen wirklich unwiderstehlich. Diese Art der Subjektivität ist keineswegs auf die großen urbanen Zentren beschränkt, obwohl sie dort am deutlichsten und konzentriertesten ist, denn kapitalistische Produktionsverhältnisse – die auch Wünsche produzieren – durchdringen jede Pore der brasilianischen Gesellschaft und berühren sowohl die ganz Armen als auch die extrem Reichen.

Es steht viel auf dem Spiel. Wenn es durch den Integrationsprozess gelingt, die kapitalistische Struktur der Wünsche anzueignen und zu transformieren, was dank ihrer »Wörtlichkeit« einfacher sein mag als es scheint, dann könnten revolutionäre Maßnahmen eifrige Unterstützer finden. Wenn es den Sozialisten aber nicht gelingt, das utopische Element in den Wünschen der Ausgegrenzten herauszudestillieren und es in seiner bisherigen Form weiterexistiert, könnte das Ergebnis die Rückkehr eines autoritären Regimes oder gar Bürgerkrieg sein. Aus dieser Perspektive bekommen die Zusammenstöße zwischen Staat und Drogenhändlern in Rio de Janeiro symptomatische Bedeutung. Die Umsetzung der Strategie des PT, deren grobe Züge ich dargestellt habe, hat bereits begonnen und wird aller Voraussicht nach die Form einer schrittweise vorgehenden und täglichen Neubestimmungen unterliegenden Politik annehmen. Wohin dies führt, ist noch nicht zu bestimmen, aber es wird von den Ereignissen der nächsten drei Jahre abhängen. Deswegen kann man sich nicht nicht zu dieser Frage verhalten.

Der Artikel basiert auf einem Vortrag auf der 2003 Marxist Reading Group Conference: Born of Desertion. Singularity, Collectivity, Revolution, an der University of Florida, Gainesville.

Übersetzung: Florian Miguel Klose und Julian Müller