Stell dir vor, die Pflicht ruft

Das Gerede vom sozialen Pflichtjahr ist die karitativ maskierte Debatte über eine autoritäre Maßnahme. von ivo bozic
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Es gibt nicht wenige bürgerliche Linke und liberale Grüne, die dem Neoliberalismus durchaus etwas abgewinnen können. Immerhin, und das freut sie besonders, bedeutet er einen weiteren Rückzug des Staates – zumindest im Bereich der Ökonomie. Doch während auf der einen Seite die Wirtschaft immer unabhängiger von Politik und Staat agiert, nimmt der Einfluss des Staates auf das Leben seiner Bürger deutlich zu. Statt antiautoritärem Liberalismus erleben wir, wie Wirtschaftsliberalismus einerseits mit einer neuen autoritären Formierung der Gesellschaft andererseits einhergeht. Und damit sind nicht nur unter dem Vorwand der Volksgesundheit durchgezogene Antiraucherkampagnen gemeint – aber auch die! Auch dabei geht es schließlich um obrigkeitsstaatliche Einmischung in die Privatsphäre, in die individuelle Freiheit. Einmischungen, wie wir sie im Alltag immer häufiger beobachten können: totale Überwachung, die Speicherung unserer Daten auf Autobahnen, an Flugzeugschaltern, im Internet, abgehörte Telefone, Gen-Dateien, videoüberwachte Straßenbahnen, Fußgängerzonen, Einkaufsmeilen. Man kann wahrlich nicht davon sprechen, dass sich der Staat überall zurückzieht.

Nun planen einige Politiker einen der größtmöglichen Zugriffe auf die individuelle Freiheit, die man denken kann: ein soziales Pflichtjahr für alle. Anders gesagt: systematisierte Zwangsarbeit im Dienste der Nation. Bisher gibt es das nur in Haftanstalten und in Form der – kurz vor ihrem Ableben stehenden – Wehrpflicht. Im Militär ist die psychologische und soziale Zurichtung immer totalitär und autoritär. Da geht es nicht nur um einen Zwangsdienst, sondern auch um die Erziehung des Bürgers zum gehorsamen Diener seines Vaterlands, zum dumpfen Befehlsempfänger, zum Kameraden der Herrschenden.

Anders beim sozialen Jahr. Hier werden soziale Kompetenzen nicht zerstört, wie – ganz bewusst – bei der Bundeswehr, sondern gefördert. Kein Wunder, dass 70 Prozent der Deutschen so etwas begrüßen würden nach dem Motto: Schwerter zu Rollstühlen. Und in der Tat, so manchem rasierten Hohlkopf, den man Samstagnacht in seinem tiefer gelegten schwarzen Golf über die dörfliche Landstraße zum Treffpunkt an der Tankstelle rasen sieht, wünscht man, dass er sich zumindest ein Jahr seines kümmerlichen Lebens nützlich machen würde. Das wäre immerhin besser, als ausgerechnet solchen Strolchen auch noch eine Waffe in die Hand zu drücken und ihnen das Killen beizubringen. Doch leider hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Wenn aus der Pflicht- eine Berufsarmee wird, dann werden sich die ärmsten Lichter, jene mit der geringsten sozialen Kompetenz und dem größten Aggressionspotenzial genau dort einfinden und aus der Bundeswehr endgültig eine große Wehrsportgruppe machen. Wer die Abschaffung der Wehrpflicht fordert statt der Abschaffung des Militärs, der muss wissen, was er sich damit unter Umständen einhandelt.

Das Gerede vom sozialen Pflichtjahr ist nur die karitativ maskierte Debatte über eine autoritäre Maßnahme. Es geht nicht um die Erziehung zum verantwortungsvollen, solidarischen Miteinander. Und es sind auch nicht die leeren Staatskassen, die Politiker darüber nachdenken lassen, solch einen nationalen Dienst einzuführen. Kurz- und mittelfristig würde ein derartiges Pflichtjahr sogar ungeheuere Summen kosten. Was ist es dann, was Politiker von der CDU bis zur SPD veranlasst, eine entsprechende Debatte anzuzetteln?

Die Verpflichtung des Bürgers zum Staatsdienst hat vor allem ideologische Gründe. Den Bürgern, und auch den Bürgerinnen, soll vermittelt werden, sie hätten einen bestimmten Beitrag zur Gemeinschaft, zur Aufrechterhaltung des Gemeinwohls zu leisten. Als ob sie das im privaten Raum und durch ihre Steuerabgaben nicht schon täten. Die Dienstleistenden werden zu Komplizen des Staates gemacht. Man bedient das Konstrukt der nationalen Volksgemeinschaft, in der »das Volk« und »sein Staat« an einem Strang ziehen. Jeder Deutsche habe die Verpflichtung, für sein Land, also für seinen Staat und seine Nation, einzustehen.

Genau in dem Moment, da sich der Staat mehr und mehr aus seiner sozialen Verantwortung zurückzieht, wie bei der Rente oder der Gesundheitsversorgung, will man der Bevölkerung vermitteln, sie selbst sei der Staat, sie selbst trage dafür die Verantwortung, dass der Wohlstand gewahrt bleibe. Und daher sei jeder Protest oder Widerstand gegen den Sozialabbau im Grunde asozial. Die Identifikation des Bürgers mit seinem Staat ist eine wichtige Voraussetzung des völkisch-nationalen Projektes, wie es seit der Wiedervereinigung reanimiert wurde. Wo Herrscher und Beherrschte eine Gemeinschaft bilden, eine Volksgemeinschaft also, da regt sich auch kein sozialer Widerstand.

Dieselben Motive oder zumindest dieselben Konsequenzen stecken hinter den Diskursen von der Zivil- und Bürgergesellschaft, von der Anerkennung des Ehrenamts. Linksliberale Sozialwissenschaftler glauben, dass bürgerliches Engagement zu mehr gesellschaftlicher und damit auch demokratischer Partizipation führt. Dazu, Gemeinsinn zu fördern, Verantwortung zu verteilen, zu dezentralisieren und Hierarchien abzubauen. Doch das ist Unsinn! Denn die Hierarchien bleiben dieselben, und mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten erhält der fleißige Bürger als Dank für sein Bemühen nicht. Und ob ihm selbst einmal geholfen wird, hängt von der Hilfsbereitschaft anderer Bürger ab. Und das alles unter den Bedingungen eines immer gnadenloseren Kapitalismus mit immer weniger sozialer Sicherheit und immer härterem Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt.

Das Gerede vom sozialen Pflichtjahr ist doppelzüngig. Während einerseits an die Verantwortung des Einzelnen, an den Gemeinsinn und das Engagement appelliert wird, greift der Staat gleichzeitig massiv in die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger ein und macht sie zumindest für ein Jahr zu seinen Sklaven.

Schließlich würde sich auch bald die Frage stellen, wer denn diesen Dienst zu leisten hätte. Nur die Deutschen? Oder auch die in Deutschland lebenden Ausländer? Das würden die anderen Staaten wohl kaum zulassen, denn beim Militärdienst gibt es schließlich auch keinen Zugriff auf Nicht-Staatsangehörige. Was, wenn ein Deutscher ins Ausland zieht? Wie wäre das alles mit dem europäischen Einigungsprozess vereinbar? War man nicht gerade erste Schritte in Richtung eines neuen Staatsbürgerschaftsrechts gegangen? Die Einführung eines solchen Pflichtjahres würde erneut einen Trennstrich zwischen Deutschen und Nichtdeutschen ziehen, und dazu führen, dass Menschen mit dem falschen Pass wieder mal als Fremdkörper angesehen werden.

Das nationale Dienstjahr wäre ein ideologischer Sieg für die Ewiggestrigen, die noch in den Kategorien des Obrigkeitsstaates denken, und für die völkisch-nationale Formierung. Scheinbar eine typisch deutsche Angelegenheit. Denn von 19 Nato-Staaten haben 13 keine Wehrpflicht, und nirgends gab es Diskussionen um ein soziales Pflichtjahr als Ersatz. Das einzige Land mit einem vergleichbaren Zwangsdienst, wie ihn hier unter anderem der SPD-Politiker und immer fröhliche Pop-Musik-Beauftragte seiner Partei, Siegmar Gabriel, fordert, ist das von einer Militärdiktatur regierte Birma. Allerdings verstößt der Vorschlag gegen das Grundgesetz, die Europäische Menschenrechtskonvention und diverse andere deutsche und europäische Gesetze, so dass in absehbarer Zeit nicht mit der Umsetzung jenes Plans zu rechnen ist.