Tod dem inneren Schweinehund!

Extremsportler und christliche Märtyrer haben die Virtuosität der Selbstnarkose gemein. Sie suchen das Leben und finden den Tod. von beat jung
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Als der heilige Laurentius auf einen glühenden Eisenrost gelegt wurde, so geht die Legende, habe er sich mit heiterem Gesicht an den römischen Kaiser Decius gewandt: »Schau, Elender, eine Seite hast du schon gebraten, dreh mich auf die andere Seite und iss dann!« Und zu seinem Peiniger soll Laurentius gesagt haben: »Wisse, Elender, deine Kohlen sind für mich Erfrischung.«

Gefragt, warum sie sich diese Qual antue, sagt Natascha Badmann, vierfache Siegerin des Ironman auf Hawaii: »Das ist für mich keine Qual, sondern eine Freude. Ich freue mich 365 Tage auf diesen einen Tag.« Dieser eine Tag im Oktober auf Hawaii ist gleichbedeutend mit 3,8 Kilometern Schwimmen, 180 Kilometern Radfahren und 42 Kilometern Laufen.

Die Analogien zwischen mittelalterlicher Legende und heutigem Extremsport sind offensichtlich. Gemeinsam ist christlichem Martyrium und modernem Extremsport ein Versprechen: Der Glückseligkeit im Jenseits entsprechen Erfüllung und Erlösung auf der Ziellinie. Und der Weg zum Glück führt übers Leiden.

Märtyrer wie Extremsportler sind Virtuosen der constantia, einer Tugend, die sich mit Begriffen wie Ausdauer und Standhaftigkeit umschreiben lässt. Da ist einerseits die Beharrlichkeit in der radikalen Weltverachtung des Märtyrers, andererseits die Überwindung der Welt im Extremsport: Kein Berg ist zu hoch, dass ich ihn nicht erklömme, keine Renndistanz zu lang, dass ich ihr nicht gewachsen wäre. Das Geschehen läuft ab nach der Mechanik der Libido: Je größer die Hindernisse und Widerwärtigkeiten, je länger die Distanzen, die es zu überwinden gilt, um so größer ist das Begehren, sie zu meistern. Was dem Heiligen das Wunder, ist dem Sportler der Rekord.

Hawaii gehört wie etwa Wimbledon, Kitzbühel, die Alpe d’Huez, die Eigernordwand und der Mount Everest zu den Orten sportlicher Betätigung, die in den kollektiven Fantasien mit Magie assoziiert werden. Das Faszinosum im Fall von Hawaii sind die unberechenbaren Witterungsverhältnisse, Hitze, Wind, Strömung und Wellengang des Meeres.

Der Mensch im Kampf mit äußeren Widrigkeiten steht im Zeichen des Schmerzes und dessen Überwindung.

»Als ich das erste Mal auf Hawaii war«, erzählt Badmann, »war ich einfach auf die große Hitze eingestellt.« Badmann schwamm, fuhr Rad, und während des Marathons nahm sie bei jedem Posten Wasser und schüttete es über sich. Das Wasser lief in die Schuhe, bei Kilometer drei merkte sie, dass es zu scheuern begann, bei Kilometer vier Blasen an beiden Füßen. »Ich fing an, dem Schritt auszuweichen, die Füße nicht mehr richtig aufzusetzen.« Ihren inneren Kampf beschreibt Badmann mit den Metaphern vom »inneren Teufelchen und Engelchen«. »Das Teufelchen wurde immer größer und hatte alle Ausreden: ›Je, du Armes, mit diesen Blasen an den Füßen kannst du nicht mehr rennen.‹ Darauf das Engelchen: ›Jetzt hast du so lange trainiert. Schau doch das Schöne an.‹ ›Dort vorne ist dein Hotel‹, entgegnete das Teufelchen. Und wirklich, bei Kilometer sieben lief ich an meinem Hotel vorbei, noch 100 Meter und ich hätte mich ins Bett legen, die Füße hoch lagern können.«

In dem Moment jedoch, als sie sich entschieden habe, weiter zu laufen, habe sie die Blasen nicht mehr gespürt. »Ich habe nur noch das Schöne gesehen, die Farben der Blumen. Meine Füße spürte ich in dem Moment wieder, als ich im Ziel war und die Leute auf meine Schuhe schauten und sagten, die sind ja ganz rot. Rot heißt Blut, Blut heißt Schmerz. Von da an konnte ich drei Tage nicht mehr gehen.«

In Hawaii ist die Hitze, die vom Boden abstrahlt, extrem. Badmann gehört zu jenen Athleten, die anfällig sind für Blasen. »Ich bekomme die Blasen unter dem Zehennagel, der Nagel wird angehoben, bricht und fällt später ab. Schmerzhaft ist der Moment, bis der Druck der Blase weg ist.« Letztes Jahr brachen Badmann beim Ironman auf Hawaii acht Zehennägel.

Der versehrte Körper im Zustand der Selbstnarkose ist das Resultat erfolgreichen Schmerzmanagements. Die Techniken der Selbstüberwindung haben Tradition in der westlichen Kultur. »Entweder ist der Schmerz erträglich oder kurz«, behauptete der Stoiker Seneca und appellierte ans positive Denken während des Leidens: »Frische deine Erinnerungen an die Gegenstände deiner größten Bewunderung auf!« Die christlichen Praktiken zur Abtötung des Fleisches wurzeln im Gebet und unerschütterlichen Glauben an Gott, und auch im mentalen Training geht es darum, Anfechtungen und Zweifel zu eliminieren.

Für je einen kurzen Augenblick scheint die Rückkehr ins Paradies möglich. Ulrich Aufmuth, Psychologe und Bergsteiger, spricht in seiner Analyse des Extremalpinismus von der »starken Erfahrung des vollkommenen Zusammenklangs von Bewegungstätigkeit, Sinnesleistung und Bewusstseinsaktivität«. Die Kurzformel hierfür heißt Glück. »Mein Ich ist in dem Moment ausschließlich mit dem Arbeiten des Körpers und meiner Sinne identisch«, schreibt Aufmuth. »Das andere, das reflektierende Ich, der Sitz von Zweifel und Disharmonie, hat nichts zu melden.«

Bei Natascha Badmann ist das Glückserlebnis mit einer völligen Zuwendung zur Welt identisch. Sie erinnert sich an ihren ersten Sieg auf Hawaii: »Ich hatte innerlich so viel Platz, dass ich tatsächlich das Gefühl hatte, ich könnte die ganze Welt umarmen. Ich wollte alle Menschen glücklich machen.«

Hawaii ist für die Triathleten Elysium und Golgota zugleich. Am Ende des Kreuzwegs stehen Tod und Auferstehung. »Das Glücksgefühl, nach so einem anstrengenden Tag die Ziellinie zu erreichen, geht auch Richtung Erlösung«, sagt Badmann. Die Gestik des Erlösers der Christenheit und der Athletin, die die Kraft verspürt, alle Menschen glücklich zu machen, verläuft parallel.

Liegt der Sinn extremer Verausgabung im gesteigerten Dasein? In der Berührung mit dem eigenen Selbst? »In diesen neun Stunden auf Hawaii«, sagt Badmann, »läuft das ganze Leben ab.« Den Wettkampf aufgeben bedeutet auf einer symbolischen Ebene den Tod. Hier liegt die List von Badmanns »Engelchen«. Es rät zum Weitermachen, letztlich zum Leben, meint aber die Hingabe an die Erschöpfung. Dass Badmann am Ende nicht kollabiert, sondern tanzend als Siegerin über die Ziellinie läuft, hebt sie aus der Masse heraus. »Im Ziel zusammenzubrechen, so dass einen die Ambulanz auf der Bahre wegtragen muss, das passt nicht zu meinem Bild, wie ich Sport mache.«

Ausdauersport ist zu einem Massenphänomen geworden, zelebriert als Event und Fun, ein Ausdruck des Lifestyle. Als »Spektakel des Weltuntergangs« und »Delirium eines leeren Sieges« beschreibt Jean Baudrillard den Marathonlauf in New York mit seinen heute 30 000 Teilnehmenden. »Kann man von freiwilligem Leiden wie von freiwilliger Knechtschaft sprechen?«, fragt sich der französische Philosoph. »Bei strömendem Regen, unter Hubschraubern und Beifallsstürmen, von Aluminiumkapuzen bedeckt und auf ihre Stoppuhren schielend, mit nackten Oberkörpern und verdrehten Augäpfeln suchen sie alle den Tod, den Tod durch Erschöpfung, wie er vor zweitausend Jahren den Marathonläufer ereilte, der, lasst uns daran erinnern, immerhin eine Siegesmeldung nach Athen brachte.« Baudrillard beschäftigt sich damit, welche Botschaft die heutigen MarathonläuferInnen überbringen. »Gemeinsam freilich übermitteln sie eher die Nachricht vom Bankrott der menschlichen Rasse, wenn man sieht, wie die im Ziel Einlaufenden von Stunde zu Stunde mehr in die Knie gehen.«

Ob New York, Hawaii oder anderswo – die Szenarien im Zielraum sind die gleichen. Der medizinische Apparat ist aufgebaut, die Ärzte sind zur Stelle, um die Erschöpften wieder zu beleben. »›Wir haben gesiegt!‹, haucht der sterbende Grieche von Marathon. ›I did it!‹, seufzt der erschöpfte Marathonläufer und bricht auf dem Rasen des Central Park zusammen«, konstatiert Baudrillard, bevor er zur Schlussfolgerung ansetzt: »Man läuft, um zu zeigen, dass man fähig ist, an die eigenen Grenzen zu gehen, um den Beweis zu erbringen … den Beweis wofür? Dass man es schafft anzukommen. Auch die Graffiti verkünden nichts anderes als: Ich heiße Soundso und es gibt mich! Sie machen kostenlose Werbung für die eigene Existenz.«

Der spätantike Märtyrer legte im Leiden Zeugnis ab für seinen Glauben, in der säkularisierten Version legt der selbstentfremdete Mensch als Ausdauersportler Zeugnis ab für die eigene Existenz. »Es geht um das Gefühl vom Hier und Jetzt, das Leben spüren mit allen Teilen«, sagt Natascha Badmann. Egal, ob Lust oder Schmerz, ExtremsportlerInnen suchen Gefühlsintensitäten, wie sie im modernen Leben kaum mehr zu haben sind. Das Handlungsprogramm, das abläuft, heißt Suche nach dem Leben. In der Erschöpfung finden sie den Geschmack des Todes mit dem Aroma der Erlösung.