Der letzte linke Professor

Ein Gespräch mit Peter Grottian über Proteste jenseits der Institutionen und die Situation in der Hauptstadt

Wo immer sich Widerstand regt, ist er dabei: Peter Grottian, geboren 1942, arbeitet seit 17 Jahren als Teilzeithochschullehrer an der FU Berlin. Wenn er nicht lehrt, macht er Politik. Er ist aktiv im Komitee für Grundrechte und Demokratie, im Berliner Sozialforum, bei Attac und in der Initiative Berliner Bankenskandal. Kürzlich streikte er für zwei Wochen und fuhr mit Studierenden und Erwerbslosen kollektiv schwarz.

Wo waren Sie 1968?

In Berlin. Ich war ein interessierter Student der Politikwissenschaft, politisch aber weder sehr engagiert noch organisiert, so wie die meisten Studenten des Otto-Suhr-Instituts.

Wie wurden Sie politisiert, woher kam das politische Interesse?

Das kam durch die Studentenbewegung, obwohl ich sehr individualistisch blieb. Mein wissenschaftliches Interesse entwickelte sich über Staatstheorien und die Reformfähigkeit kapitalistischer Gesellschaften.

Ein Schlüsselerlebnis war für mich, dass ich aus der Pädagogischen Hochschule in München-Pasing, wo ich zwischen 1969 und 1972 an einem Forschungsprojekt über die Reformmöglichkeiten der Bürokratien und die Reformpolitik der sozialliberalen Koalition arbeitete, wegen angeblich radikaler Inhalte rausgeschmissen werden sollte.

Wer sind Ihre politischen Vorbilder und wo würden Sie sich theoretisch verorten?

Ich bin das, was man einen pragmatischen Linken nennt. Neben meinen Bezügen zur politischen Ökonomie, zur Staatstheorie und zu vielen sozialen Bewegungen bin ich vor allem geprägt durch das Engagement im Komitee für Grundrechte und Demokratie, mit seiner menschenrechtlichen Ausrichtung. Es geht mir darum, außerinstitutionelle Initiativen und Protestbewegungen zu unterstützen, auch mit meiner wissenschaftlichen Arbeit. Traditionelle Großorganisationen, egal ob Parteien, Gewerkschaften oder andere Verbände, können primär von außen wirkungsvoll unter Druck gesetzt und verändert werden.

Ist Politik Ihr Hobby?

Hobby klingt mir doch sehr nach nur Fröhlichkeit und Entspannung, das ist es nicht. Die Initiative Berliner Bankenskandal ist für mich ein Versuch, von links bis möglichst in die Mitte der Gesellschaft vorzudringen. Tatsächlich ist es beim Spaziergang im Grunewald gelungen, das Bildungsbürgertum von Dahlem und Zehlendorf mit den Autonomen punktuell zu verbinden. Das ist für Berlin eine Uraufführung gewesen.

Bei der Schwarzfahraktion war es ähnlich. Es ist schon sehr interessant, dass der Senat, der alles andere ablehnte, was in den letzten Monaten an Alternativen angeboten wurde, da plötzlich einknickte. Zumindest sagen SPD und PDS, sie würden das Sozialticket wieder einführen.

Aber ungefähr doppelt so teuer.

Ich glaube, es ist sogar noch schlimmer. Die Zusage, das Ticket wieder einzuführen, könnte sich als eine reine Beruhigungspille erweisen. Unsere Informationen lassen vermuten, dass die Aushandlungsprozesse zwischen dem Senat und den Verkehrsbetrieben gar nicht stattfinden. Deshalb wollen wir am 14. Februar erneut mit 80 oder 100 Betroffenen kollektiv schwarzfahren.

Rein formal ist eine linkere Regierung als die von SPD und PDS ja kaum denkbar. Ist es nicht erschütternd, was man da miterleben muss?

Ich bin nicht so sehr erschüttert, weil ich nicht viel mehr erwartet habe. In Berlin wird regiert wie im repräsentativen Absolutismus. Man legt den Haushalt nach sehr geheimniskrämerischen Methoden fest und sagt dann: Jetzt gibt es keine Auseinandersetzung und keine Änderung mehr. Das Vorzeigen der leeren Hosentaschen reicht als Legitimation aus.

Nun aber gibt es Leute, die diskutieren, ob man, nachdem die traditionellen Parteien ein erhebliches Vakuum an Glaubwürdigkeit geschaffen haben, bei der Abgeordnetenhauswahl antreten sollte. Das könnte so etwas werden wie die Regenbogen-Koalition in Hamburg, eine relativ undogmatische Linke.

Würden Sie für eine solche linke Koalition als Regierender Bürgermeister zur Verfügung stehen?

Gewiss nicht, weil mein Platz in den außerinstitutionellen Bewegungen ist. Die Vorstellung, mit einem linken Wählerbündnis, das »Ein anderes Berlin ist möglich« heißen könnte, das Vakuum zu schließen, hat zwar ihren Reiz. Aber was wird sich dadurch ändern? Bei der Blockade des Abgeordnetenhauses durch die Studierenden hätte ein Abgeordneter eine Rede im Plenum gehalten, und das wäre auch alles gewesen. Einfluss und Veränderbarkeit wären nicht größer, nicht mehr als eine symbolische Repräsentation.

Doch die Gründung einer wie auch immer gearteten Wahlliste wird nicht aufzuhalten sein.

Wo nehmen Sie die Motivation her, immer weiterzumachen, sich immer wieder etwas Neues auszudenken und zu hoffen, dass man damit neue Leute erreichen kann?

Bewegungsunternehmer ist mein Zweitberuf, meine Profession. Ich bin Hochschullehrer, aber wenn ich etwas analysiert habe, dann platziere ich das nicht primär auf dem nächsten Politologenkongress. Ich versuche mich einzumischen. Da ich in dem Rhythmus ein Jahr voll, ein Jahr frei arbeite, kann ich solche Sachen mit der entsprechenden Energie angehen. Und ich habe Zeit, mich zurückzuziehen, durchzuatmen und zu überlegen, was Sinnvolles zu tun ist.

Was verändert sich denn an den Unis mit dem allmählichen Ausscheiden der Hochschulprofessoren der 68er-Generation? Rücken Linke nach?

Es kommen überhaupt nur wenige nach, denn der wissenschaftliche Nachwuchs ist ja durch die Einsparungen besonders betroffen. Der Mittelbau spielt politisch kaum eine Rolle. Das hängt natürlich mit den Abhängigkeitsverhältnissen von den Hochschullehrern zusammen. Und manche Hochschullehrer meinen schon, sie seien unglaublich radikal, wenn sie während des Streiks mit ihrem Seminar in die U-Bahn gehen. Ich habe die Studierenden dafür scharf kritisiert, dass sie diese Auseinandersetzung mit den Hochschullehrern nicht führen: Harmonismus im Hörsaal trotz sehr unterschiedlicher Interessen.

Die Hochschullehrer meines Alters, also Ende 50, Anfang 60, sind in ihrer Weise schon sehr engagiert, aber Gesellschaftspolitik ist ihnen eher fremd geworden. Der Typ Hochschullehrer mit dem Charme eines Sparkassendirektors kommt mehr und mehr zum Zug – Hochschullehrerinnen mit abnehmender Tendenz. Der neue Typ ist sehr freundlich, sehr aufgeschlossen, servicefreundlich, kundenorientiert, aber nicht anstößig, nicht widerständig. Deshalb haben Wolf-Dieter-Narr, Fritz Vilmar und ich ein Zeichen gesetzt und die Arbeit wegen der unzumutbaren Lehr- und Lernbedingungen niedergelegt.

Aber Narr und Vilmar sind doch schon in Rente?

Sie sind beide emeritiert, aber sie lehren und prüfen weiter. Insofern sind sie noch Kollegen.

Wie sind sie denn nun wirklich, die Studierenden des Jahres 2004? Sind sie links, haben sie sich politisiert oder kämpfen sie nur für ihren Anteil am großen Kuchen?

Es ist sehr viel besser als beim Streik 1997/ 98. Die doppelte strategische Ausrichtung der Studierenden ist bemerkenswert. In ihren Resolutionen formulieren sie gleichermaßen ihre eigenen wie auch ihre stadt- und gesellschaftspolitischen Interessen. Und das wird von der Öffentlichkeit honoriert. Bei manchen Aktionen oder bei der Demonstration am 13. Dezember waren etwa 15 Prozent Nichtstudierende dabei. Ich sehe das als Erfolg. Die früheren Proteste waren fast lupenreine Studentenproteste.

Die Studierenden haben auch die Balance zwischen Spaßaktionen und regelverletzenden Aktionen viel besser gehalten als 97/98. Aber sie haben es bisher nicht geschafft, eine Auseinandersetzung über zentrale Felder der Politik zu beginnen, so dass sich die Herrschenden damit auseinandersetzen müssten. Sie haben es beim Bankenskandal mit uns zusammen probiert, aber auch da gelingt es im Moment schwer.

Das Volksbegehren zum Bankenskandal wurde zurückgewiesen. Finanzsenator Sarrazin meint, eine Insolvenz wäre teurer, und die Folgen eines Volksbegehrens müssten ausgabenneutral sein. Was halten Sie davon?

Das Politikverständnis, das hinter der Verfassung steht, ist folgendes: Die Bevölkerung soll das Recht haben, ein Volksbegehren zu machen, aber beim Geld hört es auf. Das Budgetrecht lassen sich die Herrschenden nicht nehmen. Unsere Initiative läuft aber nach einem ganz anderen Muster. Wir sagen gesellschaftsvertretend, die Ausgaben, die der Staat für diesen Bankenskandal gemacht hat, waren weder durch die Verfassung noch durch das Haushaltsrecht gedeckt, und deshalb muss neu verhandelt werden.

Die EU-Kommission in Brüssel rechnet jetzt mit Risiken von 35 Milliarden Euro, das Abgeordnetenhaus hat 21,6 Milliarden Euro abgeschirmt. Sarrazin redet davon, dass es nur drei bis sechs Milliarden sein sollen. Ja, was denn nun eigentlich? Das Ziel des Volksbegehrens ist eine Auseinandersetzung über eine bessere Lösung, damit das Land nicht noch mehr Geld zubuttern muss. Dieser Auseinandersetzung ist der rot-rote Senat immer ausgewichen, und die Öffentlichkeit hat das weitgehend hingenommen.

Woran liegt es? An der SPD, weil sie selbst in den Skandal verstrickt ist?

Ja, die SPD ist verstrickt, und die koalitionspolitische Vasallentreue der PDS ist geradezu erstaunlich. Dafür gibt es nur die Erklärung, dass das Deckeln dieses Bankenskandals zu den freundlichen Offerten des Koalitionsvertrages gehört.

Woher kann eine gesellschaftliche Veränderung kommen? Worauf setzen Sie Ihre Hoffnung? Sind es die Studierenden, die Arbeitslosen, die Gewerkschaften, die Sozialforen?

Es geht darum, die globalisierungskritische Bewegung mit lokalen und regionalen Initiativen zu verbinden. Wir müssen Alternativen zur Agenda 2010 entwickeln, nicht nur die Vermögenssteuer, sondern in Konzepten von selbstbestimmter Arbeit für zwei Millionen Menschen und einer Grundsicherung, die diesen Namen verdient.

Daraus folgen ganz andere Proteste: Die Armut in die Zentren des Reichtums bringen, Arbeits- und Sozialämter zum Teil schließen, Arbeitsplätze instandbesetzen. In Berlin müssen radikale Konzepte zur Entschuldung entwickelt und exemplarische Konflikte mit Massenprotesten kombiniert werden. Noch nie war der Legitimationsverlust von rot-grünen oder rot-roten Regierungen so groß. Nun liegt es auch an uns, ob wir Alternativen anbieten und entwickeln können.

interview: regina stötzel und stefan wirner