Heiße Tränen in Pink City

Mit »Kal Ho Naa Ho« präsentiert die Berlinale ein echtes Bollywood-Produkt. andreas hartmann hat sich den Film schon in Indien angeschaut

Ein Film wie »Herr der Ringe«, der den Charakter eines Events hat, den wirklich jeder gesehen hat und über den man sich mit jedem unterhalten kann, ist bei uns zwar der Traum jeder Produktionsfirma, aber eher die Ausnahme. In Indien kommen andauernd Hits in die Kinos, die nicht nur gesehen und bald wieder vergessen werden, sondern die das gesamte soziale Gefüge dieses riesigen Landes prägen. Wohin man derzeit auch geht in Indien, mit wem man sich auch unterhält, überall entdeckt man die Auswirkungen des aktuellen Bollywood-Blockbusters »Kal Ho Naa Ho«. Jungs sind total aus dem Häuschen, wenn man sich für den Star des Films, der von allen nur »Hero« genannt wird, für Shah Rukh Khan, interessiert. Die meisten sagen, der softe Macho mit dem wässrigen Frauenverführerblick sei ihr absoluter Held, sie würden gerne sein wie er. Ein paar finden zwar, sein Stern wäre bereits wieder am Sinken, doch so richtig ernst genommen werden sie mit dieser These von den anderen nicht.

Egal, ob man mit dem Bus unterwegs ist, sich von einer Autorikscha für ein paar Rupien duch die Gegend gondeln lässt oder eine Kamelsafari in die Wüste Thar in Rajasthan, im Norden Indiens, unternimmt, aus jedem Soundsystem scheppern die neuesten Hits aus »Kal Ho Naa Ho«, und in der Wüste hat unser Kamelführer den größten Smasher des Films auf seinen Lippen: »It’s Time To Disco«.

Ohne Musik, ohne gute Musik, ohne eingängigen Hindi-Pop in einem Film wie »Kal Ho Naa Ho«, der einen extrem modernen Look hat, funktioniert kein Bollywood-Streifen. Die Musik macht gut die Hälfte des Erfolgs aus. In jedem dieser Filme kommt es zu ausgedehnten, aufwändig choreografierten Tanz- und Singeinlagen. Diese setzen oft total unvermittelt ein, bringen manchmal die Handlung voran, manchmal nicht, sind oft Traumsequenzen. Keine Kritik kommt darum herum, auf die Qualität und Farbenpracht dieser Musical-Elemente einzugehen, sie sind die wahre Essenz dieses Kinos. Klar, auch die Story sollte ein Minimum an Erträglichem bereit halten, doch wenn ein Bollywood-Streifen die richtigen Schauspieler in gelungener Tanzextase zeigt, hat er schon so gut wie gewonnen.

Musik- und Filmindustrie sind deswegen in extremer Weise miteinander verwoben. Auf MTV-Indien läuft nur ganz selten das Neueste von Justin Timberlake oder Christina Aguilera, sondern meist die neuesten Bollywood-Hits. Die Kosten für diese Clips sind äußerst gering, da eigentlich nicht viel mehr getan werden muss, als den Musical-Part eines Films als geschlossenes Performance-Video zu präsentieren, die Werbeträchtigkeit dieser Clips für die dazugehörigen Filme ist natürlich immens hoch. In den großen Plattenläden Bombays werden lieber die neuesten Soundtracks in die Auslagen gestellt und nicht die neue Platte von Kylie Minogue.

Wir schauen uns »Kal Ho Naa Ho« von Nikhil Advani in einem wunderschönen Kino in Jaipur/ Rajasthan an, das als eines der prunkvollsten des Landes gilt. Eine Karte in der mittleren Preiskategorie kostet 50 Rupien, das ist umgerechnet ein Euro. Leisten kann sich dies nur die Mittelschicht. Es gibt zwei getrennte Kassen, eine für Frauen, eine für Männer. An der Frauen-Kasse baut sich die Menschenschlange schneller ab, deswegen lassen viele der indischen Männer lieber ihre Frauen anstehen.

Der Kinosaal ist in zartes Rosa getaucht, was bestens zu Jaipur passt. Die Stadt wird auch »pink city««genannt, weil im Stadtkern die meisten Häuser rosa angestrichen sind. Anders als in indischen Kinos üblich, wird diesmal vor der Vorstellung keine indische Flagge auf die Leinwand projiziert, zu der man aufstehen muss und die Nationalhymne singt. So schlimm finden wir das allerdings nicht. Dafür wird nochmals das Zertifikat gezeigt, das ausweist, dass es sich bei »Kal Ho Naa Ho« um einen staatlich geprüften, die Sitten und Bräuche des Landes nicht verletzenden Film handelt. Die Auflagen, die ein Bollywood-Streifen zu erfüllen hat, sind streng. Sexszenen und Küssen sind tabu, weswegen sich Bollywood meist bemüht, auf andere Weise Erotik auf die Leinwand zu zaubern. Legendär sind die so genannten Wet-Sari-Szenen, in denen sich die verliebten Protagonisten während der Musical-Einlagen urplötzlich in ihren hauchzarten Klamotten im Wasser räkeln und ein paar Wassertropfen auf sinnlich geformten Schmollmündern perlen.

»Kal Ho Naa Ho« verzichtet auf wet saris. Es handelt sich hier um einen Film, der sich etwas traut und ein paar Dinge anders darstellen möchte. Es gibt – und das ist eine echte Sensation – sogar eine Kussszene zwischen einem schwulen Pärchen. Der Kuss ist zwar nur angedeutet, doch die Prüfungskommission muss bestimmt lange überlegt haben, ob sie das durchgehen lassen kann.

Eine Zeitlang war es in Bollywood äußerst populär, das Filmsetting in die Schweizer Natur zu verlegen. Die Schweiz gilt für die Inder als Land ihrer Sehnsüchte. Hier ist es unglaublich sauber, alles funktioniert, der Unrat landet im Mülleimer, alles ist anders, scheinbar besser als in Indien – und dennoch gibt es überall Kühe. Die Schweiz als Drehort kam in der letzten Zeit etwas aus der Mode, zuletzt wurde – schon vor »Herr der Ringe« – Neuseeland als neues Paradies entdeckt, doch »Kal Ho Naa Ho« spielt nun komplett in New York. Westlich orientierte indische Jugendliche lassen sich inzwischen wohl doch eher für ein brodelndes Amerika begeistern als für die ewigen Naturidyllen.

Der Film läuft im Original ohne Untertitel, das heißt, es wird im Bollywood-typischen Hindi-Englisch gesprochen. Dies ist eine Mischung aus Hindi, in das dauernd Versatzstücke aus Englisch geflochten werden. Für den indisch-amerikanischen Culture-Clash, um den es in »Kal Ho Naa Ho« geht, passt das natürlich perfekt.

Die Handlung ist äußerst simpel. Nach dem Selbstmord ihres Vaters wird Naina Catherine (Preity Zinta), die in der indischen Community New Yorks lebt, ihres Lebens nicht mehr froh. Sie blüht erst auf, als unvermittelt Aman Mathur (Shah Rukh Khan) auftaucht, der sich vorgenommen hat, alles dafür zu tun, dass dieses Mädchen mal wieder lacht. Naina verliebt sich in Aman, alles könnte so schön sein, und der Film könnte auch schon mal nach 80 Minuten statt nach Bollywood-üblichen 160 Minuten mit einem Happy End schließen. Doch dann hätte ja das Tragische gefehlt, das kommt dafür jetzt noch knüppeldick. Denn bald erfahren wir, dass Aman todkrank ist, er wird nur noch drei Monate zu leben haben. Doch Aman ist ein echter Hindu, es geht ihm nicht darum, dass er selbst glücklich wird, sondern um die anderen.

Wir fangen langsam an, nach Taschentüchern zu kramen.

Aman macht sich also daran, sich selbstaufopfernd weiter um das Glück von Naina zu kümmern. Er will sie verliebt machen in den gemeinsamen Freund Rohit (Saif Ali Khan), der inzwischen seine Zuneigung zu Naina entdeckt hat. Die Liebe zwischen Rohit und Naina würde für Aman das letzte Glück bedeuten.

Eines dieser großen Kinofeste, zu denen es in indischen Kinos angeblich immer kommt, bei denen alle mitbrüllen, mitsingen und sich gegenseitig die Tränen trocken, ist diese Vorführung von »Kal Ho Naa Ho« nicht. Was vielleicht doch daran liegt, dass wir in einem altehrwürdigen Kino gelandet sind. In Delhi standen wir vor einem schmuddeligen Kino, in dem gerade ein Film lief, dessen Werbeplakat irgendeinen Action-Trash versprach, aus dem jedoch lautstark mitbrüllende Männer zu hören waren. Einige der Inder verließen die Vorführung von »Kal Ho Naa Ho« bereits vor Schluss, vielleicht weil sie wussten, dass jetzt nur noch das Happy End kommen konnte. Wir jedoch hingen geplättet in unseren Sesseln. Vielleicht einfach deswegen, weil der Film so unheimlich lang war, vielleicht aber auch, weil wir so berührt waren.

»Kal Ho Naa Ho« lief eben auf der Berlinale und erscheint demnächst auf DVD mit englischen Untertiteln.