Die Elite wird neu sortiert

Die Verfeinerung des Produktionsprozesses in den sechziger Jahren führte zu einer Vergrößerung der Elite. Ihr Einsatzgebiet wurde die Sicherung der Herrschaft und der Reproduktion. von felix klopotek

Als Ende der sechziger Jahre in Italien die Studenten revoltierten, widmete ihnen Pier Paolo Pasolini ein Gedicht: »Als ihr euch gestern in Valle Giulia geprügelt habt/ mit den Polizisten/ hielt ich es mit den Polizisten!/ Weil die Polizisten Söhne von armen Leuten sind./ Sie kommen aus Randzonen, ländlichen oder städtischen.«

Pasolini musste dafür viel Schelte einstecken, und tiefschürfende Kritiker werden sicherlich viel Richtiges zu seinem Romantizismus der Armut geschrieben haben. Aber das Misstrauen des kommunistischen Dichters gegen die militanten Studenten saß tief. Und das zu Recht. Denn der revoltierende, sich bisweilen linksradikal gerierende Student ist eine historisch recht junge Erscheinung. Früher waren Studenten nicht per se links, denn sie waren an der Universität, um sich zu Führungskräften, zur Elite, ausbilden zu lassen.

Akademiker übernahmen später in der Justiz, der Verwaltung oder im Bildungssystem herrschaftssichernde Staatsarbeiten oder gingen »in die Wirtschaft«, nicht als Lohnabhängige, sondern um als Manager, Justiziare, Ingenieure, Bankiers, Logistiker und Unternehmensberater über Lohnabhängige die Kommandogewalt auszuüben. Wer als Student Kommunist oder auch nur Sozialdemokrat wurde, muss dies explizit als Klassenverrat verstanden haben und gehörte auf jeden Fall zur Minderheit.

Das änderte sich in Westdeutschland in den sechziger Jahren. Die Universitäten wurden geöffnet, und dank eines staatlichen Stipendiensystems wurde auch Arbeiterkindern der Besuch der Hochschule möglich. Die Universitäten verloren die Aura der Eliteschmieden und wurden zu so genannten Massenuniversitäten.

Ein Grund dafür war, so banal das auch klingen mag, der unaufhörliche Produktivitätsfortschritt der unter kapitalistischen Bedingungen organisierten Arbeit. Die forcierte Spaltung zwischen Kopf- und Handarbeit im Produktionsprozess bedingte nicht nur den Massenarbeiter, der stumpf an seiner Fließbandmaschine die Arbeit verrichten muss, sondern auch die Fachkräfte, die diese Maschinen entwickeln, installieren, kontrollieren und die Massenarbeiter überwachen. Letztere müssen über ein komplexes Wissen verfügen, das die akademische Aneignung voraussetzt.

Aber nicht nur die Intellektualisierung des Produktionsprozesses bedingte vermehrt akademische Ausbildungsformen. Vor allem der Ausbau des herrschafts- und reproduktionssichernden Sektors der Gesellschaft (das Therapiewesen, die Pädagogik, die Werbung, die Öffentlichkeitsarbeit, Beratungen aller Art, der Journalismus und Sport, kurzum: die Kulturindustrie als ideologischer Staatsapparat) als erweitertes sozialstaatliches Instrument, um der permanenten Krisenhaftigkeit des Kapitalismus zu steuern, sorgte für den Schub an Innovationen und Arbeiterkindern an den Universitäten. Und er sorgte für den Eindruck, dass es an den Universitäten, wie sie nach der sozialdemokratischen Bildungsreform der siebziger Jahre existierten, eigentlich ganz egalitär und humanistisch zuginge. Der Form nach aber blieben die höheren Lehranstalten das, was sie schon in den Jahrzehnten davor waren: Orte zur Ausbildung von Eliten.

Was jetzt diskutiert wird und wogegen sich viele, aber vielleicht noch nicht mal die Mehrheit der Studierenden wehren – die Einführung von Studiengebühren, Sanktionen gegen Langzeitstudierende, die Verringerung des Bafög, die Missachtung der Geisteswissenschaften, der mittelfristige Aufbau von so genannten Eliteuniversitäten, die enge Anbindung an die Industrie –, ist keine Attacke des Kapitals, auch kein neoliberaler Kahlschlag, sondern schlicht eine Neusortierung der Elite. Wirklich interessant ist allenfalls die Periodisierung: Etwa 30 Jahre blieb das sozialdemokratische Bildungsparadigma bestehen, gemessen am Kapitalismus als Weltsystem, das sich auf unabsehbare Zeit durchgesetzt hat, eine kurze Zeitspanne.

Es hat wenig Sinn, sich das studentische Dasein von links schön zu reden, etwa indem man von »proletarischen Eliten« spricht. (Jungle World, 5/04) Die Arbeitslosigkeit unter Akademikern etwa liegt immer noch erheblich unter dem Durchschnitt. Ende des Jahres 2002 lag sie bei 4,1 Prozent, was der Zahl von 223 600 Akademikern entspricht. Die Arbeitslosigkeit insgesamt lag bei einer Rate von 9,8 Prozent. Daran ändert auch nicht viel, dass gerade in den vergangenen Jahren die Akademikerarbeitslosigkeit stärker als die allgemeine Arbeitslosenrate gestiegen ist. Das hängt vor allem mit dem Zusammenbruch der New Economy und der Medienkrise zusammen. Daraus einen Trend abzuleiten und eine Angleichung der Arbeitslosenquoten zu erwarten, ist mindestens gewagt.

Auch die Haltung, studentische Proteste in die Nähe von Arbeitskämpfen zu rücken, stört. Beide haben nur wenig gemeinsam. Studenten können nicht die Mehrwertproduktion unterbrechen, und »Wissensproduktion« ist, solange sie an staatlichen Hochschulen stattfindet, keine Mehrwertproduktion. Die Streiks der Studierenden sind deshalb ganz und gar symbolisch und nur dann gefährlich, wenn sie die Borniertheit überwinden und Teil einer gesellschaftlichen Empörung allgemeiner Natur werden, wie das in Frankreich und Italien vor 35 Jahren der Fall war.

Auch das Argument, dass die Studierenden ja schließlich der »Rohstoff« des Produktionsprozesses seien, macht ihre Kämpfe nicht um einen Deut »proletarischer«. Denn wenn sie »Rohstoff« sind, und die Veredelung des Rohstoffs, die Qualifikation, der Sinn und Zweck der Universität ist, dann kann der Streik doch nur darum gehen, wie die Veredelung besser oder schlechter gestaltet werden kann.

Ein Student, der per se gegen die Veredelung ist, führt das ganze Vorhaben ad absurdum. Das ist natürlich charmant, allerdings stellt der Student damit auch seine eigene Existenz als solcher in Frage: Soll er doch von der Uni gehen und irgendwas anderes machen. Der Arbeiter kämpft um den Erhalt seiner Arbeitskraft, der Student um die Veredelung, in der Tat ein gewichtiger Unterschied!

Eine defätistische Analyse? Zynisch und »ökonomistisch«? Nein, im Gegenteil, die Situation ist eigentlich ganz ausgezeichnet. Der Produktivitätsschub der siebziger Jahre brachte eine gewisse Liberalisierung mit sich, auf den Druck der Massen wurde in den reichen Metropolen nicht nur mit verschärfter Repression, sondern auch mit Integration, gesellschaftlichem Verständnis und dem Überlassen von Freiräumen reagiert. Der nächste Produktivitätsschub kann darauf verzichten.

»Die Revolution ist vorbei, wir haben gesiegt« lautete eine beliebte Parole der siebziger Jahre. Der wahre Kern dieses zutiefst resignativen Sprüchleins besteht in der Erfahrung, dass nach 1968 wirklich viel Wissen frei gesetzt wurde, um als Produktivkraft angewandt zu werden, Wissen, das nicht nur auf eine kleine Elite beschränkt geblieben ist.

Die Verbreiterung des Elitenbegriffs, wenn man so will: die tendenzielle Eliteninflation, steht auch für eine Verbreiterung des gesellschaftlichen Wissens und für eine Verfeinerung des Produktionsprozesses, in dem etwa die brutale Hierarchie der Fabrik bzw. die klösterliche Ruhe der Universitäten in Auflösung begriffen sind.

Es lohnt, mit dem Marxschen Begriff des general intellect, des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters, wie er aus einem immer verschlungeneren, immer arbeitsteiligeren Produktionsprozess hervorgeht, weiterzuarbeiten. Dieser general intellect hat auch Konsequenzen für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen: Kämpfe, die auch nur ein Minimalziel verfolgen, können nicht mehr isoliert ausgefochten werden. Werden sie es, so sind sie blitzschnell neutralisiert. Die Preisfrage lautet: Wer wird sich noch in einem Jahr an die Streiks der Studierenden in diesem Wintersemester erinnern?

Wer heute an den Universitäten streikt, wird nicht mit Mitbestimmung, einem wilden Leben zwischen Sitzstreik und sexueller Revolution und in der Abschlussprüfung mit einem marxistischen Professor belohnt. Man lässt ihn zappeln, bis er sich beruhigt hat. Produktive Enttäuschung ist das Maximum, das bei den aktuellen Unistreiks herausspringen kann.

Das Problem ist nicht der Idealismus der Nachwuchsintellektuellen. Davon haben die Studis jedenfalls zu wenig. Es ist ihre Selbstidealisierung. Um noch einmal Pasolini zu zitieren: »Hört auf, an eure Rechte zu denken/ hört auf, die Macht zu fordern. / Ein reuiger Bourgeois hat auf all seine Rechte zu verzichten/ und aus seiner Seele ein für allemal/ die Idee der Macht zu verbannen.«