30 Jahre Notstand

Der italienische Staat lässt ausliefern von egon günther

Seit über 20 Jahren hat Cesare Battisti keine Straftat mehr begangen und längst dem »bewaffneten Kampf« abgeschworen. Er lebte in Frankreich auch keineswegs im Untergrund. Für den italienischen Innenminister Giuseppe Pisanu war die Verhaftung von Battisti dennoch ein »bedeutsamer Fortschritt im Kampf gegen den Terrorismus«.

Dieser Schwachsinn hat Methode. Er fußt nämlich auf der Behauptung, der Ausnahmezustand sei ein jederzeit angemessenes Instrument politischer Technologie, bei dem geschichtliche Besonderheiten gleichgültig sind.

Bereits im Januar wurde die mit Algerien und Ägypten ausgehandelte Auslieferung der 46jährigen Rita Algranati und des 50jährigen Maurizio Falesi nach Italien von Pisanu als brillante antiterroristische Operation gefeiert. Bei den beiden handelt es sich um ehemalige Mitglieder der Roten Brigaden, von denen höchstwahrscheinlich seit über 20 Jahren keinerlei Gefährdung der »demokratischen Ordnung« ausgeht.

Im Mai werden es ganze 30 Jahre sein, die ein anderer Rotbrigadist lebendig in italienischen Gefängnissen begraben ist. Der mittlerweile 58jährige Turiner Arbeiter Paolo Maurizio Ferrari war der erste Aktivist dieser Stadtguerilla, der ins Gefängnis kam, und dies zu einer Zeit, als in Italien das Referendum über die Ehescheidung abgehalten wurde, die Staatsbombe im Italicus-Zug explodierte und noch kein Mensch von Postfordismus sprach.

Adriano Sofri, 60 Jahre alt, der wegen der ihm und zwei anderen ehemaligen Führungsgenossen der außerparlamentarischen Linken von einem zweifelhaften Kronzeugen zur Last gelegten Ermordung des Polizeikommissars Luigi Calabresi zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, sitzt inzwischen länger im Knast von Pisa, als seine Zeit bei Lotta Continua (1969 bis 1976) währte. Calabresis Tod liegt heute 32 Jahre zurück. Sofri, der daran unschuldig sein will, lehnt es ab, für sich um Gnade zu ersuchen. Lega Nord und Postfaschisten widersetzen sich hartnäckig einem Gesetzesantrag, der die direkte Begnadigung Sofris durch den italienischen Staatspräsidenten Carlo Azelio Ciampi ermöglichen und damit den Justizminister Roberto Castelli umgehen würde. Der Lega-Minister Castelli verweigert seine ansonsten für den Gnadenakt notwendige Unterschrift mit dem stereotypen Hinweis auf eine andauernde Gefährdung der inneren Sicherheit durch den Terrorismus.

Mal sind es die »neuen« Roten Brigaden, mal die so genannten aufständischen Anarchisten, mal die Islamisten – es gibt immer einen Grund, die Reste der alten Notstandsgesetzgebung aus den siebziger Jahren beizubehalten und jeden Ansatz zu einer kollektiven politischen Lösung für die von der Strafjustiz verfolgten Veteranen der damaligen Aufstandsbewegung zu hintertreiben.

Oreste Scalzone, 56, ehemals bei Potere Operaio aktiv, der seit 20 Jahren als Flüchtling in Frankreich lebt, hat mit einer schon verzweifelt anmutenden Provokation versucht, diese stets im Sande verlaufende Amnestiedebatte wieder zu beleben. In einer im italienischen Fernsehen ausgestrahlten Talkshow erklärte er sich dazu bereit, sofort nach Italien zurückzukehren, falls sich der Staat verpflichte, nicht noch 25 bis 30 Jahre nach den jeweiligen Taten nach dem Leben von Leuten wie Battisti zu »krallen«, die sich eine andere Existenz aufgebaut haben, Kinder haben und inzwischen mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind.