»Battisti soll ewig Terrorist sein«

Seit den siebziger Jahren ist in Italien der »Notstand« Regierungsstrategie. Interview mit wu ming i vom italienischen Schriftstellerkollektiv Wu Ming

Nach der Verhaftung von Cesare Battisti in Paris haben Sie einen Text unter dem Titel »Cesare Battisti und die Freiheiten in Italien« verfasst. Was ist an dem Fall Battisti paradigmatisch?

Der Fall Battisti ist bezeichnend für eine nicht abgeschlossene Geschichte. Vor etwa dreißig Jahren – zwischen 1975 und 1982 – benutzte der italienische Staat den »Terrorismus« als Vorwand, um die Notstandsgesetze zu verabschieden. Ihr Ziel war es, die radikale Massenbewegung in Europa zu zerschlagen. Und dieses Ziel wurde erreicht. In diesem Zeitraum wurden insgesamt 15 000 Menschen inhaftiert, 4 000 wurden verurteilt. Die Sondergesetze zielten auf eine drastische Beschränkung der individuellen Meinungs- und Redefreiheiten. Es wurden Straftatbestände wie »geistige« oder »moralische Mittäterschaft« eingeführt. Die Absicht war klar: Aus Meinungen wollte man eine Straftat machen. Außerdem bekamen die Polizei und Justiz durch die Sondergesetze unglaublich viel Macht, es wurden Hochsicherheitsgefängnisse errichtet, wo Willkür und Misshandlungen gegenüber den Inhaftierten an der Tagesordnung waren. Das geschah auch in anderen Ländern, aber in Italien hat man aus dem »Notstand« eine permanente Regierungsstrategie gemacht. Heute verlangt die italienische Regierung den Kopf von Cesare Battisti. Unser Land ist eine planetarische Werkstatt für das Experimentieren mit Repressions- und Kontrollstrategien. Der Staat setzte in den siebziger Jahren auf Repression, heute auf Vorbeugung, die Strategie bleibt aber die gleiche.

In dem Buch »Nemici dello Stato« (dt.: Staatsfeinde) bezeichnet Wu Ming – damals unter dem Namen Luther Blisset Project – Italien als ein Land, in dem der Ausnahmezustand die Normalität darstellt. Welche Auswirkungen hat dieser normale Notstand?

Als »Notstand« bezeichnen wir einen Prozess, in dem der »öffentliche Feind« ständig neu definiert werden muss. Nach dem 11. September 2001 hat sich der Schwerpunkt des weltweiten Notstandes auf die terroristische Bedrohung verlagert. Die Medien arbeiten fleißig daran, die »öffentliche Meinung« davon zu überzeugen, dass wir »im Krieg« sind, dass der Feind unter uns ist. Ein wichtiges Instrument, damit die propagandistische Maschinerie funktioniert, ist die Rhetorik vom »Feind der Demokratie«. Dieser muss zunächst identifiziert werden, dann wird er entmenschlicht. Jeder Versuch, die Menschlichkeit dieses »Feindes« in den Vordergrund zu stellen, wird abgelehnt und verdrängt. Das ist eine politische Operation. Für die italienischen Mainstream-Medien ist Battisti nicht der Schriftsteller und Familienvater, der 2004 in Paris ein Leben in der Legalität führt. Er ist nicht ein Intellektueller, der mit seinen Büchern in Frankreich und in Italien wesentlich dazu beigetragen hat, eine kritische Reflexion über die siebziger Jahre anzuregen. Es wird ihm sein Werdegang aberkannt, ihm wird nicht erlaubt, jemand anderes zu sein als der Terrorist von 1979, damit man ihn als »unmenschlichen Mörder« beschreiben kann.

Die Verhaftung von Menschen, die seit Jahren im politischen Exil in Frankreich leben, wird von der italienischen Regierung als »brillante« Antiterroroperation verkauft. Wozu führt die Logik der »unendlichen Vergeltung«?

Im Namen des Terrorismusalarms kann die öffentliche Meinung für beinah jede Schweinerei abgerichtet werden. In Italien findet eine große Geisterbeschwörung über die Gespenster einer unverarbeiteten Vergangenheit statt. Den sozialen Bewegungen wird beispielsweise eine Debatte zur Frage der Gewalt und Gewaltlosigkeit aufgezwungen. Geredet wird über die Nähe der sozialen Kämpfe zum Terrorismus. Verlangt wird etwa die Distanzierung von den Paketbomben, ganz so, als wäre die Distanz nicht schon objektiv vorhanden und klar ersichtlich. Bei diesen rhetorischen Fallen fiel die politische »No-Global«-Elite schon öfter auf die Schnauze. Vielleicht macht sie sich so sogar überflüssig.

Ist das eine Strategie der Rechten?

Nein, das kann man leider nicht sagen. Alle politischen Kräfte, die sich selber als »liberal-demokratisch« bezeichnen, verletzen seit Jahren die Rechte und die Garantien, die das liberale Denken theoretisch schützen sollten. Ihre Vorstellung von Demokratie beschränkt sich auf die Möglichkeit, freie Wahlen abzuhalten. Die Logik der unendlichen Vergeltung kann damit unendlich weitergehen. Wie in dem Film »Minority Report« kommt die Rache vor dem Verbrechen.

In Frankreich setzten sich nicht nur Intellektuelle und radikale Linke für die Freilassung von Battisti ein, sondern auch die institutionelle Linke. Warum schweigt die parlamentarische Linke in Italien?

In den siebziger und achtziger Jahren begrüßte die Leitung der Kommunistischen Partei mit Begeisterung die Einführung von Ausnahmegesetzen. Und nicht nur das. Einige dieser Gesetze wurden sogar von den Kommunisten vorgeschlagen. Die Linie der KP, wie sie ein Mitglied des Zentralkomitees, Armando Cossutta, 1973 formulierte, lautete: »Ein unerträgliches Klima für die Extremisten schaffen.« Damals zielte die Parteilinie auf den so genannten historischen Kompromiss, d. h. eine Allianz mit den Christdemokraten. Alle sozialen Erscheinungen, die sich gegen diese Tendenz richteten, wurden durch die Repression zerschlagen. Die heutigen Linksdemokraten entstammen dieser Tradition. Der Fraktionsvorsitzende der Linksdemokraten, Luciano Violante, ist ein ehemaliger Richter, der in den achtziger Jahren die Theorie der Notwendigkeit von Sondergesetzen gegen den Terrorismus aufstellte. Außerdem war die Linke in den vergangenen Jahren unfähig, eine wirksame Opposition gegen Berlusconi zu leisten, und hat versucht, die Aufgaben der Opposition an die Richterschaft zu delegieren. Eine radikale Kritik am italienischen Justizsystem ist nicht im Interesse der Linksdemokraten.

Warum kann man in Italien immer noch nicht über eine politische Lösung für die in den siebziger Jahren vom Staat Verfolgten sprechen?

In Italien ist kein öffentlicher Diskurs über dieses Thema erlaubt. Deshalb würde ich heute von einer »Rückkehr des Verdrängten« sprechen. Eine politische Lösung würde bedeuten, eine Generalamnestie für die Gefangenen und die Protagonisten des sozialen Konflikts in den siebziger Jahren zu erlassen. Die Amnestie sollte von einem ernsthaften Verarbeitungsprozess begleitet werden, der den bewaffneten Kampf neu bewerten sollte, um ihn auf seine politische Dimension zurückzuführen. Mit einer Amnestie würde der Staat anerkennen, dass sich der Umgang mit dieser Zeit nicht auf die Ebene des Strafrechts beschränken kann. Eine politische Lösung würde einige der ideologischen Grundlagen des Notstands gefährden. Deswegen ist sie heute in Italien nicht denkbar.

interview: federica matteoni