Das doppelte Leid

Hertha spielt, wie Berlin sich fühlt. Das war nicht immer so. von andreas rüttenauer

Einst im Mai, man schrieb das Jahr 1990, geschah in Berlin etwas, das viele für ein Wunder hielten. Hertha BSC schaffte den Wiederaufstieg in die Fußballbundesliga.

Das wurde in der Stadt als Zeichen verstanden. Eine große Zeit für Hertha sollte anbrechen, eine noch größere für die Metropole im märkischen Sand. Berlin hatte ein Zeichen gesetzt. Noch vor der Wiedervereinigung und den ersten gemeinsamen Wahlen positionierte sich die selbst ernannte Ost-West-Drehscheibe als Metropole, wie sie in der Galaxis ihresgleichen suchte. In München trat den Lokalpolitikern der Angstschweiß auf die Stirn: Will Siemens an seinen alten Konzernsitz an der Spree zurückkehren? Ist der FC Bayern nicht doch nur ein Provinzclub, über den sich die Berliner bald schon lustig machen werden?

Doch alles kam ganz anders. Hertha lieferte die schlechteste Bundesligasaison der Vereinsgeschichte ab. Bereits am zweiten Spieltag rutschten die Berliner auf den letzten Tabellenplatz und stellten einen traurigen Rekord auf. Hertha war an 33 von 34 Spieltagen Tabellenletzter und stieg sang- und klanglos in die zweite Liga ab. Das hatte nicht einmal jener legendäre Verein zustande gebracht, der bis heute immer genannt wird, wenn nach dem schlechtesten Bundesligaklub aller Zeiten gefragt wird. Denn Tasmania Berlin, sammelte zwar in einer ganzen Saison nur acht Punkte, gewann aber das erste Spiel und stand also sogar einmal an der Tabellenspitze.

Während Hertha in der Liga von Niederlage zu Niederlage eilte, wurde in der Republik die Hauptstadtdebatte geführt. Ob Berlin wohl auch den Zuschlag bekommen hätte, wenn Hertha in diesem Jahr Deutscher Meister geworden wäre? Die Zentralismusängste vieler Abgeordneter wären gewiss noch größer gewesen. Doch mit dem 1. FC Kaiserslautern stellte die Provinz den Fußballmeister, und die Politik machte Berlin zur deutschen Hauptstadt.

Die nun folgenden mageren Jahre in der zweiten Liga, in denen der Verein eine Unmenge von scheiternden Trainern und Spielern beschäftigte, brachte der Hertha einen neuen Spitznamen ein: die Unaufsteigbaren. Und während in Berlin immer noch über die Chancen der Werkstatt der Einheit an der Schnittstelle von Ost und West diskutiert wurde und sogar Politiker wie der pfannkuchengesichtige Korpsstudent Eberhard Diepgen als Symbolfiguren des Aufschwungs der Großstadt zur Metropole gefeiert wurden, schlug das statistische Landesamt gnadenlos zu. Statt, wie allüberall verkündet, zu wachsen, nahm es sich Berlin heraus zu schrumpfen. Statt reich und schön zu werden, verarmten ganze Bezirke. Mitte der neunziger Jahre begannen die ersten Neu-Hauptstädter zu verzweifeln. New York, Paris und London rückten als Maßstab in immer weitere Fernen. Berlin: die Unaufsteigbare.

Zu jener Zeit herrschte die Große Koalition aus SPD und CDU. Ihre einzig nennenswerte Leistung war es, Berlin mit einer schwer zu durchdringenden Lethargieschicht zu überziehen. Obwohl es jede Menge Kultur gab, Clubs wie Pilze aus dem Boden schossen und rund um den Hackeschen Markt die ersten Geschäfte eröffneten, in denen teure Schuhe verkauft wurden, schien die Stadt wie gelähmt. Diese eigenartige Stimmung spiegelte sich auf den Rängen des Olympiastadions wie der, wenn die erfolglose Hertha in der zweiten Liga antrat. Nicht selten verirrten sich weniger als 6 000 Fans im weiten Rund des gewaltigen Stadions und ließen sich ihre ohnehin nicht gute Stimmung von Heimniederlagen ihrer Mannschaft gegen Fortuna Köln oder den SV Meppen weiter vermiesen. Außer einem Haufen masochistischer Fußballnarren interessierte sich niemand mehr für die Hertha.

Die Wende kam im Jahr 1997. »Ganz Berlin knutscht seine Hertha«, Tausende von Berlinern klebten sich den Aufkleber auf ihr Auto. Hertha war wieder erstklassig. Doch schon wenige Wochen nach Saisonbeginn kratzten die ersten ihren Aufkleber wieder ab. Hertha war nach fünf Spieltagen wieder einmal Tabellenletzter und die Berliner waren stinksauer. Sie hatten keine Lust mehr auf schlechte Nachrichten. Am 15. Spieltag verließ Hertha die Abstiegszone und Berlin begann zu hoffen. Eine Zeit der Erwartung brach an. Die Berliner Politik versprach sich Wunderdinge vom bevorstehenden Regierungsumzug, und die Hertha versprach ihren Fans Wunderdinge für den Fall des Klassenerhalts. Um genauso gut wie der FC Bayern zu werden, holte man sich einen Mann ins Management, der den gleichen Nachnamen trägt wie Uli Hoeneß. Das Wort von der Hertha als »schlafendem Riesen« wurde geprägt. Und tatsächlich: Der Klassenerhalt wurde geschafft und schon zwei Jahre später spielte tatsächlich eine Mannschaft aus Berlin in der Champions League. Die Laune in der Hauptstadt hatte sich radikal geändert. Hertha war wieder wer. BZ und Berliner Kurier begannen von Meistertiteln zu träumen, und die Hauptstadtpolitik freute sich auf die Vielzahl von zahlungskräftigen Neubürgern aus dem Rheinland, die die Stadt durch exzessives Konsumverhalten aus der Krise führen sollten.

Doch die Freude währte nur kurz. Denn Berlin wurde nicht Meister, obwohl die Boulevardzeitungen das wollten. Die Berliner wurden unzufrieden mit der Hertha, die sich immerhin regelmäßig für den Uefa-Cup qualifizierte. Auch die Niederlagen gegen europäische Durchschnittsmannschaften wie Grashoppers Zürich oder Groclin Grodzisk kamen nicht gut an bei den Berlinern. Die waren inzwischen sowieso wieder schlechterer Laune. Denn obwohl jetzt in vielen Kneipen auch Kölsch ausgeschenkt wurde, konnte der Haushalt nicht saniert werden. Der Bankenskandal gab den Berlinern den Rest. Sie wählten Rot-Rot und die Kitagebühren stiegen trotzdem.

Zu Beginn der gerade laufenden Bundesligasaison überraschten dann die Aussagen mehrerer Hertha-Spieler die Öffentlichkeit: »Wir wollen Meister werden«, sagten die einen. »Unser Ziel ist die Champions League«, sagten die anderen. »Das wollen wir sehen«, dachten sich 40 000 Berliner, die sich Karten für das erste Heimspiel gegen Werder Bremen gekauft hatten. Das Spiel endete 0:3 und Hertha fand sich gleich zu Saisonbeginn am Tabellenende. Dort steht der Club noch immer.

Vielleicht hat der Niedergang mit der Verpflichtung eines Spielers namens Alex Alves begonnen. Der eitle Brasilianer wurde im Jahr 2000 für 7,4 Millionen Euro verpflichtet, sollte jede Menge Tore für Hertha schießen und dann gewinnbringend veräußert werden. Das hat so richtig nicht geklappt, und so ist Alves’ Verpflichtung zusammen mit dem Transfer des bis dato gescheiterten »Winnertyps« (Manager Dieter Hoeneß) Fredi Bobic so etwas wie die Herthaner Bankenaffäre. Und Hertha spielt weiter so, wie sich Berlin fühlt: miserabel.

Vielleicht gelingt es der Hertha ja eines Tages, sich von den Stimmungen in der Stadt zu lösen. Das gelang schon einmal. In den Jahren 1930 und 1931 verelendeten in der Folge der so genannten Weltwirtschaftskrise ganze Bevölkerungsgruppen. Berlin lag am Boden. Und Hertha BSC holte die beiden einzigen Meistertitel seiner Geschichte. Vielleicht also muss es Berlin noch schlechter gehen, damit es Hertha wieder besser geht.