Jetzt sind die Freunde dran

Nach dem Rücktritt des Präsidenten Aristide rücken internationale Truppen ein. Der Machtkampf in Haiti ist nicht zu Ende.

Er wolle lieber sterben, als dem »Druck der Opposition« zu weichen, hatte der haitianische Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide immer wieder erklärt. Am Sonntagmorgen zog er dann doch den Rücktritt vor. Der 50jährige ließ sich zuerst in die Dominikanische Republik ausfliegen, später fand er vorübergehend Asyl in Panama. Möglicherweise will er dann weiter nach Südafrika ziehen, in das Land, das ihn in den letzten Monaten entscheidend gestützt hat. Als Interimspräsident wurde der Vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofs, Boniface Alexandre, noch am Sonntagnachmittag vereidigt. Eine solche Regelung sieht die haitianische Verfassung vor.

Aristide erklärte am Sonntagvormittag in Anwesenheit seines Premierministers Yves Neptune und des Übergangspräsidenten Alexandre kurz nach sechs Uhr schriftlich seinen Rücktritt. Er habe sich zu dem Schritt entschlossen, um ein Blutbad unter der Bevölkerung zu verhindern, erklärte Neptune später auf einer internationalen Pressekonferenz. Der neue Staatschef rief auf der gleichen Pressekonferenz dazu auf, Ruhe zu bewahren und die Auseinandersetzungen auf der Straße einzustellen.

Noch im Laufe des Tages bat er in einem Schreiben, dass die »internationale Gemeinschaft« Truppen nach Haiti schicken solle, um die innenpolitische Stabilität wieder herzustellen. Zu diesem Zeitpunkt hatte bereits eine Eliteeinheit der kanadischen Armee das Kommando über den internationalen Flughafen von Port-au-Prince übernommen, um die Landung der anderen Militärkontingente zu garantieren.

Dem Rücktritt Aristides war eine Woche zunehmender Gewalttaten und intensiver diplomatischer Vermittlungsversuche vorausgegangen. Immer wieder hatte Aristide öffentlich erklärt, er werde seinen Amtssitz erst nach dem Ablauf der Legislaturperiode am 7. Februar 2006 verlassen. Alle Pläne zur Beilegung der Krise waren an der starren Haltung der Opposition gescheitert. Sie bestand auf dem Rücktritt, während aus dem Norden die Rebellen der Front für die Befreiung und den nationalen Wiederaufbau immer weiter auf Port-au-Prince marschierten und drohten, die Hauptstadt einzunehmen, sofern Aristide nicht zurücktrete.

In der Umgebung des Präsidentenpalastes kam es im Verlauf des Sonntags zu heftigen Schusswechseln. Gebäude in der Nähe brannten lichterloh, über dem Stadtzentrum hingen Rauchwolken. Seit Freitag herrschten chaotische Zustände. Zur Verteidigung der ersten freien »schwarzen Republik« hatte der von seinen Anhängern »Titid« genannte Staatschef aufgerufen. In den Straßen, in denen noch vor ein paar Tagen trotz des Aufstands der Gegner Aristides fröhlich Karneval gefeiert wurde, wurden Barrikaden aus Sperrmüll und brennenden Reifen errichtet. Mit Pistolen und Gewehren bewaffnete Lavalas-Anhänger patrouillierten auf überfüllten Pick-ups durch die Strassen.

In der Hafengegend kam es am Wochenende zu Plünderungen. Großcontainer wurden aufgebrochen. Durch die Straßen hasteten Menschen und schleppten die gefundenen Waren fort, Lebensmittel ebenso wie Elektrogeräte und Bekleidungsartikel. Auch die Lagerhallen und Einzelhandelsgeschäfte wurden aufgebrochen und ausgeplündert. In der Region zwischen Port-au-Prince und der höher gelegenen Kleinstadt Pétionville, in der viele Botschaften liegen und begüterte Familien ihre gut abgeschirmten Wohnhäuser haben, wurden mehrere Banken gestürmt. Vermutlich säumige Steuerzahler nutzten die Gunst der Stunde, um auch in das Finanzamt einzudringen und sämtliche Akten zu zerstören.

Die brennenden Barrikaden machten das Durchkommen im Zentrum fast unmöglich. Der normale Straßenverkehr war fast gänzlich zum Erliegen gekommen. Die bunt bemalten Tap-Tap-Busse waren beinah vollständig aus dem Straßenbild verschwunden.

An Straßensperren verlangten offenbar Lavalas-Militante von den passierenden Fahrzeugen Wegezoll. Teilweise kam es zu Übergriffen auf Insassen, wenn diese sich weigerten, Tribut zu zahlen. In einigen Stadtvierteln lagen Leichen auf der Straße. Etliche von ihnen hatten die Hände mit Plastikfesseln auf dem Rücken zusammengebunden und wiesen Kopfschüsse auf. Man hatte den Eindruck, dass verschiedene Gruppen, sei es der nun nicht mehr regierenden Lavalas-Familie oder der Opposition, die Gunst der Stunde nutzen, um alte Rechnungen zu begleichen.

In der letzten Woche hatte die internationale Gemeinschaft dem umstrittenen Staatschef die ohnehin schon geringe Unterstützung endgültig entzogen, nachdem die Opposition um die Demokratische Plattform einen Vermittlungsplan abgelehnt und kompromisslos Aristides sofortigen Rücktritt gefordert hatte. Aristide selbst hatte sich bereit erklärt, künftig seine Regierungsmacht mit Oppositionsvertretern zu teilen. Im Gegenzug wollten die in der so genannten Gruppe der Freunde Haitis zusammengeschlossen Länder – unter anderen Kanada, die USA, Frankreich – jedoch sein verfassungsmäßiges Verbleiben im Amt bis zum 7. Febuar 2006 garantieren.

Frankreich und die USA, die das »Friedenskontingent« anführen werden, stehen international jetzt gut da. Sie haben fast bis zur letzten Minuten versucht, Aristide als Stabilitätsfaktor im Amt zu halten. Erst als die Rebellentruppen bereits vor der Tür des Präsidentenpalastes in Port-au-Prince standen und die Gefahr drohte, dass die Mannen der ehemaligen Kannibalenarmee gemeinsam mit Anhängern des Ex-Diktators Duvalier, Mitgliedern von Todesschwadronen und wegen Menschenrechtsverletzungen Abgeurteilten demnächst das Sagen haben würden, ließen die »Freunde Haitis« Aristide fallen. Ob der Druck der USA der Demission nachgeholfen hat oder aber Aristide selbst zur Einsicht in die sich aufzwingende Notwendigkeit der Amtsaufgabe gekommen ist, wird sich wohl erst in den nächsten Tagen und Wochen verifizieren lassen.

Die »Freunde Haitis« stehen nun vor kaum lösbaren Aufgaben. Sie müssen die Gefolgsleute des ehemaligen Präsidenten entwaffnen, die auch noch nach dessen Rücktritt durch Port-au-Prince patrouilliert sind. Sie müssen dafür sorgen, dass die noch immer nicht wenigen Lavalas-Leute nicht wie in den von den Rebellen besetzten nördlichen Departements Ziel von Racheakten werden. Und vor allem müssen sie die in den letzten Wochen so erfolgreich operierende Rebellenarmee wieder auflösen.

Die Entwaffnung wird ihren Preis haben. Der Militärchef der »Befreiungsfront«, Guy Philippe, ein ehemaliger Armeeangehöriger und Polizeiverwaltungschef, verlangt eine Umstrukturierung der Polizei und den Wiederaufbau der 1995 aufgelösten haitianischen Armee. Zweifellos erwarten er und seine Partner, mit hohen Posten bedacht zu werden. Die in der Demokratischen Plattform zusammengeschlossene »gemäßigte« Opposition könnte dabei marginalisiert werden. Eine charismatische Figur, mit der die »Freunde Haitis« Staat machen könnten, fehlt dem Bündnis der Convergence Démocratique und der Gruppe der 184.

In Haiti ist fast auf den Tag genau dreizehn Jahre nachdem der Armenpriester Jean-Bertrand Aristide seinen Amtseid geleistet hatte, eine Ära zu Ende gegangen. Auf den massiven Mauern des weiß getünchten, zweiflügeligen Präsidentenpalastes sind noch zwei riesige Jahreszahlen zu sehen. In der einen gerinnt die Geschichte des Landes. Im Jahre 1804, genau am 1. Januar, schüttelten die Sklaven auf dem frankophonen Teil der Insel Hispaniola die Herrschaft der französischen Kolonialherren ab. Mit der zweiten, der Jahreszahl 2004, sollten zweihundert Jahre Unabhängigkeit symbolisiert werden. Jetzt ist dieses Jahr zu einem neuen, einem anderen historischen Datum geworden.